Ein bisschen viel (*)
Marie Kreutzers Filme punkten mit Einfühlsamkeit und Stil
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„Die gute Qualität des Referenzmaterials zu „Die Vaterlosen" lässt ein vielversprechendes Spielfilmdebüt erwarten". So begründete die Cinestyria ihr Stipendium für die Drehbuchautorin und Filmregisseurin Marie Kreutzer. Das Referenzmaterial: Drei ausgezeichnete Kurzfilme. Der Spielfilm: Eine Bearbeitung von Tschechows „Die Vaterlosen". Dessen Held: Ein tragikomischer Don Juan wider Willen, voller Ekel und ohne Hoffnung, denn - Die Situation: Die Party ist vorbei, eine Welt ist am Zerbröckeln. Und das Debüt: Stammt von der in Wien lebenden Grazerin Marie Kreutzer, die damit auch ihre Abschlussarbeit an der Filmakademie Wien vorlegen wird.
Die Autorenfilmerin Marie Kreutzer, auffallendste Nachwuchsbegabung der österreichischen Filmszene, adaptiert Tschechow, den Chronisten einer Gesellschaft, die - auf Du und nicht Du mit der Aussichtslosigkeit jedes Tuns - die Melancholie bewohnt, die sich über alles legt. Kreutzer adaptiert Tschechow: Das wird und möchte man auf alle Fälle sehen. „Die Geschichte wird in einem ganz anderen Milieu spielen", verrät Kreutzer, spricht von einem schwierigen Drehbuch; und liest man ihr bis dato größtes Projekt als Fortsetzung ihrer bisherigen Arbeit, die ihr Preise, Meriten und Lob für „ihre eigenständige Filmsprache und ihren eigenen einfühlsamen Stil" einbrachte, dann lässt sich jetzt schon sagen: Kreutzer bleibt ihrem Thema treu, Menschen in Zeiten des Umbruchs zu zeigen.
Marie Kreutzer schreibt seit ihrem zehnten Lebensjahr. Ursprünglich wollte sie Schriftstellerin werden, ließ sich aber schließlich an der Filmakademie aufnehmen - „da kann ich wenigstens schreiben" - und entdeckte so ihr Talent. „Regie führen ist ja auch eine Form des Geschichtenerzählens." Eine Form, die Kreutzer weltläufig beherrscht.
Marie Kreutzers Geschichten kommen an. Gleich ihr erster Kurzfilm, „Cappy Leit", die Geschichte der inzestuösen Liebe eines jungen Mädchens zu seinem Bruder, lief bei der Diagonale 2001 und gewann den 1. Preis des Jugendfilm-Wettbewerbs der Kurzfilmtage Oberhausen. Eine ungewollte Schwangerschaft und deren Folgen bildeten die Ausgangsbasis für ihren zweiten Kurzfilm, „Un peu beaucoup", der ebenfalls bei der Diagonale gezeigt und bei den „short cuts cologne 03" mit dem 3. Preis ausgezeichnet wurde. In beiden Filmen erzählt die Jungfilmerin von starken Emotionen und setzt filmisch auf das Erzeugen einer Atmosphäre, die Gefühlswelten abbildet; kleine Details werden mit großem Gespür für Bildkomposition und Spannungsaufbau zu handlungstragenden Elementen. Kreuzer fängt Blicke und Gesten ein, denen sie mehr vertraut als Dialogsätzen, und beleuchtet liebevoll und doch mit wohldosierter Distanz Charaktere, die an der Schwelle zu großer Veränderung stehen. Welten geraten in Bewegung, die Regisseurin aber verzichtet auf Pathos, ihre Stärke liegt in der Zurückhaltung.
Mit ihrem dritten Film, „White Box", gelang Kreutzer auf Anhieb eine gelungene Literaturverfilmung. „Ihre Adaption des 1. Kapitel des Romans „The Blindfold" von Siri Hustvedt ist vollkommen eigenständig. In klaren Worten und präzisen Bildern beschreibt Marie Kreutzer, wie eine Studentin im Auftrage eines älteren Professors die Gebrauchsgegenstände einer verstorbenen Frau beschreiben soll", schreibt die Jury des Thomas-Pluch-Drehbuchpreises des Drehbuchforums Wien. „Ohne Diskussion und einstimmig" erging der 1. Förderpreis also an Kreutzer. Man zeigte sich darüber hinaus so begeistert, dass Kreutzer im Juni 2007 in den Vorstand des Drehbuchforums Wien gewählt wurde.
Christof Huemer
Dezember 2007
*Update 2023: Stammgast bei internationalen Festivals
Seit Mai 2022 erhielt Marie Kreutzers Sissi-Film "Corsage" 14 Auszeichnungen und 40 Nominierungen. Besonders Vicky Krieps' schauspielerische Leistung wurde gewürdigt, unter anderem mit dem Europäischen Filmpreis und dem Österreichischen Filmpreis. Der Film war der österreichische Kandidat für die Oscars 2023 (internationaler Film) und wurde für den BAFTA Award (Bester nicht-englischsprachiger Film) nominiert. 2023 kamen drei Preise bei der Diagonale und drei Österreichische Filmpreise in den Kategorien Kamera, Kostüm- und Maskenbild hinzu.
Der Weg auf die internationalen Festivals zeichnete sich schon bei ihrem 2011 fertiggestellten Spielfilmdebüt "Die Vaterlosen" ab.
Filmografie (Auswahl)
2011: Die Vaterlosen (Spielfilm. Regie, Drehbuch)
Kreutzers Spielfilmdebüt, für dessen Drehbuch sie 2007 ein Stipendium der Cinestyria erhielt und der in der Steiermark gedreht wurde, feierte seine Premiere im Rahmen der 61. Berlinale, wo Kreutzer für „Best First Feature" eine lobende Erwähnung erhielt. Im März 2011 wurde "Die Vaterlosen" beim österreichischen Filmfestival Diagonale mit vier Auszeichnungen geehrt, einschließlich des Großen Preises des Festivals. Zudem erhielt der Film bei den Bozner Filmtagen 2011 die Auszeichnung als bester Spielfilm und wurde beim Fünf-Seen-Festival mit dem Nachwuchspreis prämiert. "Die Vaterlosen" erzählt die Geschichte der Nachwehen einer Hippiekommune. Nachdem deren Gründer stirbt, treffen die Kinder (nun im Erwachsenenalter), die er gezeugt hatte, nach 20 Jahren erneut aufeinander. Durch Rückblenden wird allmählich klar, welche Ereignisse zum Zerfall der Kommune führten. Die Zusammenkunft löst bei allen eine emotionale Reise in ihre Vergangenheit aus, die tiefgreifende Auswirkungen auf ihre gegenwärtigen Beziehungen und das Verhältnis untereinander hat.
2015: Gruber geht (Spielfilm. Regie)
Verfilmung des gleichnamigen Romans von Doris Knecht rund um den arroganten Werbemann John Gruber, der eine Krebsdiagnose erhält.
2016: Was hat uns bloß so ruiniert (Spielfilm. Regie, Drehbuch)
Der Film folgt dem Leben von drei befreundeten Pärchen aus dem Bobo-Umfeld, die alle bald Eltern werden. Er thematisiert die Schwierigkeiten der Familienbildung und Erziehung, den Einfluss von Dritten und die Veränderung von Alltag und Beziehungen. Die sechs Erwachsenen reflektieren vor Stellas Kamera, wie das Elternsein sie verändert.
2019: Der Boden unter den Füßen (Spielfilm. Regie, Drehbuch)
"Der Boden unter den Füßen" mit Pia Hierzegger und Valerie Pachner in den Hauptrollen Film feierte seine Premiere 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin, wo er für den Goldenen Bären nominiert wurde. Des Weiteren wurde der Film 2019 bei der Diagonale in Graz als Eröffnungsfilm vorgeführt.
2022: Corsage (Spielfilm. Regie, Drehbuch)
An ihrem 40. Geburtstag, Weihnachten 1877, findet sich Kaiserin Elisabeth von Österreich in einer Rolle, die ihr kaum Freiraum lässt. Als stumme Schönheit an der Seite von Kaiser Franz Joseph ist sie zur Repräsentation verpflichtet, ohne eigene Meinungen äußern zu dürfen. Elisabeth kämpft zunehmend gegen das aufgezwungene Bild der ewig jungen Kaiserin. Trotz ihres strengen Regimes aus Hungern, Sport, täglichen aufwendigen Frisuren und Taillenmessungen wächst in ihr Widerstand gegen das erdrückende höfische Korsett, in dem sie gefangen ist.
Fernsehfilme
Zudem hat Marie Kreutzer auch fürs Fernsehen gedreht, so etwa führte sie Regie bei der von Pia Hierzegger geschriebenen Stadtkomödie "Die Notlüge" (2017) mit Josef Hader und Pia Hierzegger in den Hauptrollen, aber auch beim NÖ Landkrimi "Vier" (2021) mit Regina Fritsch und Julia Franz Richter als Ermittlerinnen-Duo.
ARTfaces-Redaktion
Dezember 2023