Filmische Kartographien (*/**)
Die Medienkünstlerin Lotte Schreiber agiert als experimentelle, subjektive Landvermesserin.
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Wohnhausanlagen in Reih' und Glied, rasterförmig angeordnet, zwischen Grünflächen und Ödland in der Peripherie: Die Filmkamera der steirischen Künstlerin Lotte Schreiber fängt eine urbane Randzone aus der italienischen Hauptstadt Rom ein, porträtiert eine in die Jahre gekommene Architektur, die besonders in Filmen des italienischen Realismus prominent in Szene gesetzt wurde. Landschafts- und Architekturvermessung, gepaart mit Stimmungsarchäologie: in ihrem neuesten, auf der „Diagonale 08" gezeigten Kurzfilm „Borgate" erweist sich Schreiber als kompetente Spurensucherin einer vergangenen Zeit. Wo weiland Federico Fellini und Vittorio de Sica arbeiteten, haben sich Glanz und Träume verflüchtigt: ein Filmdokument über das Ende der Utopie der Moderne.
Nein, mit gängigen Grazkunst-Klischees haben die Arbeiten der 1971 in der obersteirischen Stadt Mürzzuschlag geborene Medienkünstlerin nicht zu tun: Internationalität statt Introspektion, Recherche statt Geniekult, Analyse statt Realitätsverdoppelung, Reduktion statt Extrovertiertheit. Die an der TU Graz ausgebildete Architektin ist multimedial künstlerisch tätig, in ihrer Grazer Zeit agierte sie etwa im Nachfolge-Umfeld des Künstlerkombinats FOND und spielte in mehreren Bands (z.B. „Casino L", „burning" oder „baby pellet") Melodika und trat auch als Sängerin auf. Nach Auslandsstudienaufenthalten in Edinburgh und Neapel realisiert Lotte Schreiber seit dem Jahr 2000 unterschiedliche Projekte in den Bereichen Film, Video und Rauminstallation, teils als Einzelkünstlerin, teils an der Seite ihres Kunst- und Lebenspartners Norbert Pfaffenbichler, der auch als Kurator tätig ist.
In den Filmen und Videos von Lotte Schreiber spielen Architektur und Landschaft eine bedeutende Rolle. Schon im 2002 entstandenen Video „quadro" untersucht die Künstlerin die sozialutopischen Ideen eines monumentalen 60-er-Jahre Wohnblocks in der italienischen Stadt Triest. Die ihr eigene Bildsprache lässt nie den Verdacht einer Architekturdokumentation aufkommen, der experimentelle Zugang äußert sich in einem groben Korn, unruhigen Aufnahmen und radikalem Bildschnitt. Lotte Schreiber setzt das dargestellte Objekt über Bild, Ton und Zeit in einen neuen, subjektiven Blickwinkel, tritt mit der Architektur in eine Art Zwiegespräch. Die Medienkünstlerin montiert auch in anderen Filmen - z.B.: „Domino" oder „I.E. (site 01-isole eolie)" - Videobilder mit Super 8-Aufnahmen, die aus Natur und Gebautem gefilterten Abstraktionen werden mit Low Tech-Charme und in strenger Kunstsprache umgesetzt.
Lotte Schreiber, die mit Norbert Pfaffenbichler Auslandsstipendien in Rom und Mexico City absolviert hat, ist gewohnt, als Duo, im Team zu arbeiten. Gemeinsam mit Norbert Pfaffenbichler und Michael Aschauer hat sie 2003 etwa den Klangraum „24!" geschaffen. Bei dieser Arbeit dient ein binärer Code als Ausgangspunkt für räumliche, akustische und optische Reize. Formal minimalistisch ausgeführt, präsentierte sich die Installation in der Form des eigenen Skeletts. Wie in anderen installativen Arbeiten auch, werden die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Wahrnehmung thematisiert.
Die Künstlerin, die - eine sympathische Rarität! -- in ihrer Biographie die Geburt (2005) ihrer Tochter Else Marlene anführt, lebt und arbeitet heute in Wien, zudem ist sie Vertragsassistentin am Institut für Raum und Design an der Kunstuniversität Linz.
Martin Behr
April 2008
*Update 2017: "Sie haben es so richtig satt"
Neun Jahre nach dem Porträt, das der Journalist und Künstler Martin Behr über die studierte Architektin und Medienkünstlerin Lotte Schreiber geschrieben hat, ist es Zeit, einen aktuellen Blick auf das vielseitige Leben der 46-Jährigen zu werfen. Im Oktober 2017 kam Schreiber frisch von ihrem zweimonatigen Film-Auslandsstipendium-Aufenthalt aus Sarajevo zurück und erzählte von ihren starken und vielschichtigen Eindrücken, die die Hauptstadt bei ihr hinterlassen hat. Jetzt nach ihrer Rückkehr können diese zu Projekten heranreifen. „Es liest sich an der Stadtkultur so gut ab, wie die unterschiedlichen Kulturen und Historien ineinander verschmolzen sind", schwärmt Schreiber von der Balkan-Hauptstadt. Es sind einzigartige urbane Details, die Sarajevo zu einer besonderen europäischen Stadt machen, wie zum Beispiel der multikonfessionelle Friedhof, auf dem serbisch-orthodoxe, katholische, muslimische wie auch jüdische und auch atheistische (Kommunisten) Menschen begraben sind.
Was sie als niederschmetternd empfand, war die nach wie vor starke Präsenz des Bosnienkriegs. Einschusslöcher, Ruinen und verkommene Bausubstanzen sind Zeugen einer Zeit, von der die Stadt nach wie vor traumatisiert ist. Schreiber bemerkte bei der jüngeren Generation (die zwischen 25 und 40-Jährigen), dass sie dieses Thema abstreifen will - Junge Menschen wollen zukunftsorientiert leben können. „Sie haben es so richtig satt", findet Schreiber starke Worte für den Zustand einer Generation, die auch in der Gegenwart mit dem Nichtfunktionieren des Staatenkonstrukts Bosnien und Herzegowina zu kämpfen hat. „Es gibt drei Präsidenten und 150 Ministerien im ganzen Land", erzählt Schreiber. Sie ist in die Geschichte des Landes eingetaucht, und wird in diese komplexe und bewegte Geschichte ihre Arbeit einbetten. Ihr schwebt ein Lang-Dokumentarfilm vor, mit dem sie sich inhaltlich in der Gegenwart aufhält. Impulse holte sie sich vor Ort vom Historischen Museum Bosnien und Herzegowina, das architektonisch ein Baujuwel der Spätmoderne der 50er-Jahre ist, das aber seit der Unabhängigkeitserklärung Bosniens in vielerlei Hinsicht kämpfen muss: 2012 wurde es aus finanziellen Gründen geschlossen, seit 2014 wird ebendort wieder gearbeitet: „Ein bemerkenswertes Team werkt mit unglaublichem Engagement unter schwersten Bedingungen, wie fehlender Heizung, mangelhafter Infrastruktur", berichtet Schreiber. Das Museum sammelt seit 1945 das kulturelle und historische Erbe des Landes und ist thematisch auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges fokussiert. „Das ist ein Universum, das sich da für mich aufmacht." Schreiber hat während ihres Aufenthalts erste Gespräche aufgenommen und Situationen auf Super 8 gefilmt. Sie zeigt dadurch einmal mehr ihre Leidenschaft und ihren künstlerischen Anspruch an spezielles Filmmaterial, das sich in einer Eigenästhetik erschließt. Schreiber bleibt in all ihren Filmen im Narrativen, ob es sich um einen Avantgarde- oder einen Dokumentarfilm handelt. „Ich halte nicht an Formaten oder bestimmten Genres fest", betont Schreiber. Sie ist an ihrer eigenen künstlerischen Weiterentwicklung fernab jeglichen Schubladendenkens interessiert. Sie arbeitet allein oder mit einem kleinen Filmteam.
Ihr umfassendes Wissen zu Kunst, Film und Architektur vermittelt sie in Workshops oder im Unterricht gerne weiter. Und ihr gedanklicher und filmischer Esprit verströmt eine Neugierde auf ihre nächsten Projekte.
Petra Sieder-Grabner
Oktober 2017
**Update 2023: Der Stoff, aus dem die Träume sind
Im Dokumentarfilm „Hasenleiten" (2023, Diagonale) hat Lotte Schreiber die Heranwachsenden der Gemeindebausiedlung Hasenleiten im Südosten Wiens durch ihren Alltag zwischen Park, Spielplatz, Tischtennisplatte sowie Jugendzentrum begleitet. Im Film wird mit Texttafeln und Bildmaterial auch die bewegte Geschichte der Siedlung dokumentiert. 1915 als Spital erbaut, wurde sie im Nationalsozialismus als Unterbringung von Wiener Jüdinnen und Juden vor der Deportation ins Konzentrationslager Dachau missbraucht. Heute sind in ihren 28 Häusern 1214 Wohnungen untergebracht.
Auch in der Kurzdokumentation „Sabaudia" (Uraufführung bei der Viennale 2018) taucht Lotte Schreiber als Regisseurin ins Dunkle der europäischen Geschichte ein. Der Hintergrund: 1930 ließ Mussolini die Sumpflandschaften in der Pontinischen Ebene südlich von Rom trockenlegen. Vergleichbar mit dem Autobahnbau in Deutschland wurde das Projekt für Propagandazwecke medial aufwändig begleitet. Im Zuge dieser Urbarmachung entstanden fünf neue Städte, so auch die Modellstadt Sabaudia. Der Film war Teil der Ausstellung zum Förderungspreis des Landes Steiermark für zeitgenössische bildende Kunst 2019 und lief in zahlreichen europäischen Filmfestivals.
In „Der Stoff, aus dem die Träume sind" (Uraufführung: April 2019, Crossing Europe Filmfestival 2019, Linz) nähert sich Schreiber auf facettenreiche Art an die Themen von selbstorganisierten österreichischen Wohnprojekten von 1975 bis heute an. Der 75-minütige Dokumentarfilm beleuchtet nicht nur deren sozialen bzw. sozialökonomischen Anspruch und deren gesellschaftspolitische Aussagekraft, sondern gibt auch Einblicke in die alltäglichen, kleinen wie großen Errungenschaften, Diskussionen und Konflikte, die das Leben im Kollektiv mit sich bringt.
Filmografie seit 2017
- 2023 Hasenleiten, Deutsch, A, 22 min
- 2019 Der Stoff, aus dem Träume sind (m. Michael Rieper), Deutsch, A, 75 min
- 2018 SABAUDIA, Italienisch und Deutsch, A, 24 min
Ausstellungen seit 2017 (Auswahl)
- 2019 Ausstellung zum Förderungspreis des Landes Steiermark f. zeitgenössische bildende Kunst 2016, Neue Galerie Graz, AT
- 2018 Präsentation neuer Arbeiten, Size Matters - Raum für Kunst & Film, Wien, AT / FRAMED, Kunstraum Goethestraße, Linz, AT
- 2017 NSK-STATE-IN-TIME-Pavillion, Venice, IT (05 - 07/2017) / Public ROOM, Sarajevo, BiH / Neue Galerie Studio, Graz, A
Auszeichnungen seit 2017
- 2019 con-tempus Award des Landes Steiermark für zeitgenössische bildende Kunst 2019 / Best Short Film, Sabaudia June Filmfestival, IT
- 2017 Staatsstipendium für Video- und Medienkunst
Zur Website von Lotte Schreiber
ARTFaces-Redaktion
Dezember 2023


