Morgen Augsburg (*)
Judith Bohle strahlte als Braut in einem Alpendorf und kämpfte sich als Frigga den Weg frei zu den Nibelungen. Graz wird sie vermissen.
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„Erst hier in Graz habe ich gelernt, selber was zu machen", erzählt Judith Bohle im Grazer Café Schwalbennest. Das meint sie freilich in Bezug auf Theaterarbeit, denn die junge Frau, die optisch wie ein Idealtyp des Schneewittchens bei der Tür hereinstrahlt, hat ihr eigenes Nest in Berlin, wo sie 1984 geboren wurde, schon recht früh verlassen. So wie eben jeder Mensch von dem träumt, was er nicht hat, sehnte sich das Berliner Kindl Bohle nach London. „Das war sicher auch verbunden mit dem Bild von Freiheit und Unabhängigkeit für mich, denn zuhause wurde es mir schon früh zu eng", erinnert sie sich. Also zog sie zwei Jahre vor ihrem Abitur von der Spree an die Themse und machte dort den Schulabschluss.
Danach zog es sie aber wieder nach Hause. Drei Jahre lang arbeitete sie in Berlin und wurde mit verschiedensten Welten vertraut: Von der Anzeigenabteilung der Tageszeitung taz bis zum Sushi-Restaurant ersparte sie sich nichts. Und während des Jobhoppings begann sie privat Schauspielunterricht zu nehmen, und der Wunsch, Schauspielerin werden zu wollen, reifte zur Gewissheit heran.Wer Judith Bohle als gutmütige Braut im Stück gewordenen Roman „Das Wetter vor 15 Jahren" von Wolf Haas gesehen hat, mit ihrer spürbaren Lust zu spielen, die alles ganz leicht aussehen lässt, oder als kampflustige, starke Girlie-Frigga, die jedem Patriarchen das Fürchten lehrt, ist froh, dass sie sich dem Anzeigen- und Sushigeschäft abgewandt hat.
Doch bevor sie als Schauspielstudentin die Bühne des Grazer Schauspielhauses erklomm, hatte sie eine nervenaufreibende Vorsprechtour an Hochschulen in Deutschland und Österreich hinter sich, die man auch nur auf sich nimmt, wenn die Berufung im Inneren schon gefunden ist. Und wie geht es einer dann, gelandet in Graz? Nach London und Berlin? Diese Stadt, mit einer „großartigen, weil leicht zu erkennenden Infrastruktur, die begehbar bleibt" (Bohle), hat sie erst im zweiten Jahr zu schätzen gelernt. Gelernt hat sie in diesen Jahren nicht nur ihr spielerisches Handwerk an der Uni, sondern auch das Drumherum des Berufs in einer fast schon legendären Grazer WG, in der seit über 15 Jahren immer Schauspielstudierende wohnen - immer wieder andere freilich.
Auch ihre Freunde von der Gruppe „Zweite Liga für Kunst und Kultur" hätten ihr Bild vom Schauspielerin-Sein und dem Theater überhaupt geprägt. Da kam dann eben das eingangs erwähnte Selbermachen am Theater ins Spiel: „Es geht auch um die Frage, wie politisch man sein muss, um die Berechtigung zu haben, sich auf die Bühne stellen zu können", erklärt Bohle.
Was dabei herauskommt, wenn sie etwas selber macht, kann man sich am 18. Mai 2009 im Grazer Theatercafé ansehen. Da zeigt Bohle ihre Diplomarbeit „Have You Left the Building, Promised Land?", einen Soloabend in drei Akten, der sich - richtig geraten - um Elvis dreht. In dem Stück, das eine Kulturjournalistin und Freundin Bohles in Berlin nach einer gemeinsamen Idee geschrieben hat, erfüllt sich Bohle auch einen Wunsch: „Ich wollte immer schon mal was auf der Bühne kochen und dann gemeinsam mit dem Publikum aufessen", freut sie sich. Nur soviel sei hier verraten: Es handelt sich um eine ziemlich üppige Süßspeise!
Dass der Elvis-Abend auch vorerst ein Abschiedsmahl vom Grazer Publikum sein wird, ist traurig, aber gewiss. Bohle hat ein Engagement in Augsburg in der Tasche. „Aber der Traum eines jeden Menschen aus Berlin ist es, irgendwann dorthin zurückzukehren und dort Theater zu spielen", merkt sie an. Wir wollen es gerne glauben - und drücken die Daumen.
Colette Schmidt
Februar 2009
*Update 2024: Wieder ein Berliner Kindl
Am Theater Augsburg glänzte Judith Bohle bald in Hauptrollen, darunter als Titelheldin in Minna von Barnhelm. Außerdem engagierte sie sich in Augsburg für das Projekt Grandhotel Cosmopolis, eine künstlerische Initiative, die Asylsuchende und Künstlerinnen und Künstler zusammenbrachte.
2014 wechselte Bohle ans Hessische Staatstheater Wiesbaden, wo sie unter anderem die anspruchsvolle Rolle der Hedda Gabler unter der Regie von Uwe Eric Laufenberg spielte. In weiteren Inszenierungen, wie Der ideale Ehemann unter der Regie von Tilo Nest und Onkel Wanja (Regie: Ingo Kerkhof), zeigte sie ihre Vielseitigkeit und Tiefe. Sie arbeitete mit renommierten Regisseuren wie Jan Philipp Gloger in der Produktion Leonce und Lena und beeindruckte in Die Kinder bleiben von Johanna Wehner.
Von 2016 bis 2023 war sie festes Ensemblemitglied am Düsseldorfer Schauspielhaus, wo sie in einer beeindruckenden Rollenvielfalt auf der Bühne stand. Zu ihren bemerkenswerten Auftritten gehören In 80 Tagen um die Welt, Fabian oder Der Gang vor die Hunde und die Rolle der Elizabeth Proctor in Arthur Millers Hexenjagd. Weitere bedeutende Rollen übernahm sie in Ibsens Stützen der Gesellschaft sowie in aktuellen Produktionen wie Gott von Ferdinand von Schirach, wo sie die Vorsitzende des Ethikrats spielt, und dem Musiktheaterstück Alice, inszeniert von André Kaczmarczyk.
Mittlerweile lebt Judith Bohle wieder in ihrer Geburtsstadt Berlin, wo 2022 für eine der Hauptrollen der ZDFneo-Fernsehserie Safe vor der Kamera steht. In der Serie spielt Judith Bohle Katinka, die mit ihrem Kollegen Tom in Berlin eine gemeinsame Kinder- und Jugendpsychotherapiepraxis betreibt. Die Serie begleitet in acht Folgen die Therapiesitzungen von vier jungen Patientinnen - Ronja, Sam, Nellie und Jonas - die mit unterschiedlichen psychischen Diagnosen zu kämpfen haben. Jede Folge zeigt dabei die Herausforderungen in der Arbeit mit den Kindern, aber auch die persönlichen Konflikte der Therapeutinnen. "Safe" wurde unter anderem mit dem deutschen Serienpreis "Televisionale" ausgezeichnet.
2024 war Bohle im TV-Film Frau in Blau (Regie Rainer Kaufmann) und in Episoden der Serien Sarah Kohr und Wilsberg zu sehen.
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ARTfaces-Redaktion
November 2024