Doppelte Aufmerksamkeit (*)
Ruth Anderwald und Leonhard Grond fotografieren Baustellen und hieven ihren Freunden die Welt auf die Schultern.
Wer Ruth Anderwald und Leonhard Grond noch nie gesehen hat und sich mit ihnen an einem hochfrequentierten Ort trifft, der wird keine Schwierigkeiten haben, sie zu identifizieren: Schließlich dürfte es nur wenige Paare geben, bei denen beide kurz geschorene Haare haben.
Die Frisur der beiden ist nur äußere Referenz ihrer engen Zusammenarbeit: Seit zehn Jahren produzieren die beiden ihre Filme, Fotografien und Installation ausschließlich im Doppel. Als sie im Vorjahr ein Paar kennenlernten, das wie sie viel zusammen arbeitet, waren sie dennoch ganz erstaunt, erzählt Ruth Anderwald in ihrer hellen Atelierwohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk.
Besagtes Paar - ein Pianist und eine Rhythmikerin - baten sie, für ihre neue Arbeit „Atlanten" zu posieren: Freunde und Bekannte legten sich für diese Fotoserie auf den Boden und streckten die Beine in die Höhe. Stellt man die Bilder auf den Kopf, so könnte man meinen, sie „tragen" die Welt auf ihren Schultern. „Es geht uns hier", erklärt Anderwald, „um den Mensch, der sein Verhältnis zur Welt zu definieren versucht". Bei ihren Fotosessions sei ihnen aufgefallen, dass die älteren Leute viel entspannter und ruhiger, mehr mit sich im Einklang gewirkt hätten als die jüngeren, berichten sie.
Es sind Erzählungen wie diese, die Anderwald und Grond (geboren 1976 und 1977 in Graz) als genaue und wache Beobachter ihrer Umgebung ausweisen - ebenso wie ihre Gedanken über Baustellen; sie wurden nämlich beauftragt, den Baufortschritt des neuen Südflügels des Linzer Schlossmuseums mit ihrer Kamera zu begleiten - entstanden sind Fotos, die nichts beschönigen und dennoch eine hohe ästhetische Qualität aufweisen, durch manchmal schräge Blickwinkel auf Ungewohntes schauen. „Eine Baustelle ist ein Ort, der eigentlich gar nicht da sein soll, er hat etwas Destruktives: Schließlich muss zuerst eine Grube ausgehoben und der Boden zerstört werden, damit etwas aufgebaut werden kann", findet Anderwald, „das Bauen ist mit vielen Projektionen verbunden, und es ist unglaublich komplex in seinen Abläufen." Daher verwundert es die beiden umso mehr, dass die Baustelle in der Kunstgeschichte fast nicht vorkommt.
Auch das ist charakteristisch für das Künstlerpaar: Sie arbeiten nie im luftleeren Raum, stets verfügen sie über genaues Hintergrundwissen. Auch wenn sie über ihr aktuelles Projekt, eine Serie von Nachtfotografien, sprechen, zeigt sich das: Selbstverständlich haben sie das im Vorjahr erschienene Buch „Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht" von der Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen gelesen, und natürlich wissen sie genau Bescheid darüber, was mit dem menschlichen Nervensystem bei Einbruch der Dunkelheit geschieht.
Eines der Spezialgebiete des Duos ist jedoch der frühe Experimentalfilm; vor Jahren haben sie eine feinnervige Dokumentation über einen der Pioniere des Genres, den Amerikaner Bruce Baillie, gedreht; und auch ihre eigene Arbeit ist davon beeinflusst: Zuletzt projizierten sie in einer begehbaren Camera Obscura einen 16mm-Film von der Sonnenfinsternis 2006, der im rhythmischen Schema der Zwölftonmusik geschnitten ist.
Spricht man mit Anderwald und Grond über ihre Kunst, so fliegen die Gedanken assoziativ zwischen Musiktheorie, Lyrik, Alltag, Biochemie, Kunstgeschichte, Fotografie und Politik: Ihr Aufmerksamkeitsradius ist weit. Im Gegensatz zu manchen ihrer Kollegen entgehen sie damit der Gefahr, sich selbst zu wiederholen. Vielleicht ist auch das ein Ergebnis ihres beständigen Zusammenspiels.
Nina Schedlmayer, April 2009
Anderwald & Grond
Für das Institut für Kunst im öffentlichen Raum begleiten Sie das Wachsen des neuen Museumsviertels in Graz mit „Baustellen soweit das Auge reicht", einer Serie von künstlerischen Zeitungsinseraten im Zeitraum Juni 2010 bis November 2011. Aber auch im internationalen Kontext ist das Künstlerduo Anderwald-Grond sehr gefragt. So waren sie im November 2010 mit Kurzfilmen beim Festival für experimentellen Film im Centre Pompidou in Paris vertreten und davor im Himalayas Art Museum in Shanghai mit der Personale „Shattered Horizon". Neben dem Katalog zu dieser Ausstellung publizierten Anderwald + Grond ihre Arbeiten unter anderem in Heft 112 der Camera Austria (2010).
Ausstellungen, Ausstellungsbeteiligungen und Screenings in Auswahl:
2010-2011 BAUSTELLE SO WEIT DAS AUGE REICHT (solo) Institut für Kunst im öffentlichem Raum Steiermark und Universalmuseum Joanneum Graz (A); CRISES 2 FILMS Centre Pompidou, Paris (F); SHATTERED HORIZON (solo) Himalayas Art Museum (früheres Zendai MoMA) Shanghai (CN); L'HORIZON BRISE (solo) Galerie Widmer+Theodoridis contemporary Zürich (CH); IT'S NOT EASY BEING GREEN Kunsthaus Mürz (A); RELIQTE Kulturzentrum bei den Minoriten, Graz (A); 2009 FILM Centre Pompidou, Paris (F); 2008 D'UN GENRE A L'AUTRE Espace Magnan in Kooperation mit der Villa Arson, Nizza (F); CAMERA SOLARIS (solo) CAT open, Museum für Angewandte Kunst, Wien (A); PARADISE NOW - FRENCH ESSENTIAL AVANTGARDE CINEMA Tate Modern (GB), 2007 NOTIZEN ZU EINER KÜSTE (solo) Jüdisches Museum Wien (A); SKUMRING... (mit A Btffn), Hå Gamle Prestegard Art Center (N); 2006 THIS MEANS YOU (solo) Kulturzentrum bei den Minoriten, Graz (A); 2005 VISIT Künstlerhaus Stuttgart (D); RELATIVE STRENGTH Arbeitswelten (solo), museum in progress, Wien (A); HUMAN FLIGHT EXPERIMENTS (solo) Foto - und Videowall, Kunsthalle Wien (A); NOTES ON A COAST Herzliya Museum of Contemporary Art (IL); NUIT BLANCHE Espace les Voutes, Paris (F); SIGNES DE NUIT Cinéma du Pantheon, Paris (F); 2004 ON VERRA BIEN. (solo) Centre Culturel La Cléf, Paris (F); THIS KIND OF THING - HE AND US (BRUCE BAILLIE) Rijksakademie Amsterdam (NL); QUELQUES PÉPITES DU CINÉMA EXPÉRIMENTAL Forum des Image Paris (F); ZUGLUFT - CONTEMPORARY ART FROM VIENNA Art Zürich (CH); 2002 PRESENT HOPE/DO YOU THINK SEX IS SPOOKY? (solo) Galerie kunstbuero, Wien (A); CLASSICS, PEARLS AND NOVELTIES Forum des Images Paris (F); 2000 REST. steirischer herbst (A); 1999 DER TRAUM, IL SOGNO, LE RÊVE Schloss Goldrain (IT); FILM.KUNST.LABOR. Depot, Museumsquartier Wien (A)
Werner Schandor, April 2011