Energiegeladene Grenzgängerin (*)
Wer Andrea Wenzl einmal auf der Bühne sieht, vergisst weder sie noch ihre Stimme jemals wieder
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Spätestens bei ihrem Auftritt als quirlige Erna in Schnitzlers „Das weite Land" 2002 im Grazer Schauspielhaus ist Andrea Wenzl einem breiten Publikum aufgefallen, um bei jedem weiteren Auftritt immer mehr Menschen anzusprechen. Ihre Statur ist zart, aber es ging schon damals eine Kraft von ihr und ihrer rauen und zugleich glockenhellen Stimme aus, die einen sofort in den Bann zieht. Der damalige Intendant des Theaters, Mathias Fontheim, zeichnete nicht nur für die viel beachtete Inszenierung verantwortlich, er holte auch die damals 23-jährige Südsteirerin direkt von der Grazer Kunstuniversität, wo sie ihr Schauspielstudium abschloss, ins Ensemble des Schauspielhauses.
Fontheim zog weiter nach Mainz, Wenzl blieb und brillierte seither in vielen Hauptrollen, in denen sie bewies, dass sie absolut wandlungsfähig und in jeder Rolle so eindringlich ist, dass man sich auch Jahre später genau an sie erinnern kann: Sie gab eine berührende Wendla in Wedekinds „Frühlingserwachen", eine unkonventionelle Emilia Galotti, aber auch eine verruchte Stripperin in „Heiße Herzen". Wer Wenzl 2008 als Käthchen von Heilbronn erlebt hat, will eigentlich nie wieder eine andere Schauspielerin in dieser für die heutige Lesart zum Balanceakt mutierten Rolle sehen.
Apropos balancieren: Bei der 1979 in Leibnitz geborene Wenzl deutete eigentlich anfangs alles auf die Karriere einer Tänzerin hin. Als sie an der Kunstuniversität inskribierte, hatte sie schon eine jahrelange Tanzausbildung - unter anderem an der Wiener Staatsoper - hinter sich. Doch es wäre ein Verlust für das Sprechtheater gewesen, wenn sie es beim Tanzen allein belassen hätte.
Wenzl hat keine Angst, Grenzen auszuloten und zu überschreiten. Niemand, der sie 2007 als Alice in der viel beachteten Inszenierung des „Theaterwüterichs" Viktor Bodó sah, hätte geahnt, dass die junge Schauspielerin unter Flugangst leidet. In der bildgewaltigen Bearbeitung des Romans von Lewis Carroll schwebte Andrea Wenzl an einem dünnen Seil auf die Bühne herunter, und ihr gesungenes „Ich falle!" fuhr einem direkt unter die Fingernägel. Für die Rolle des Mädchens, das mit markanten Brillen in das Wunderland blickt, als wäre sie gerade erst in die Welt geworfen worden, wurde Wenzl 2008 für den Nestroy als beste Schauspielerin nominiert. Den Nestroy bekam sie damals (noch) nicht, aber dafür kurz darauf eine kleine Marie. Der Vater der Tochter ist Schauspielkollege Dominik Warta, der 2002 im „Weiten Land" ausgerechnet den Hofreiter gab, dem Erna den Kopf verdreht.
Wenzl-Fans müssen sich nicht fürchten: Für eine lange Babypause hat diese Frau zu viel Energie. Wenige Monate nach der Geburt übernahm Wenzl ohne Vorwarnung für einige Vorstellungen die Hauptrolle in „Prinzessin Eisenherz", Franszobels Stück über eine obersteirische Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime. Die Hauptdarstellerin Verena Lercher war verletzungsbedingt kurz nach der Premiere ausgefallen. Lercher wiederum hatte Wenzl während der kurzen Babypause im amüsanten Liederabend von Franz Wittenbrink vertreten. Auch hier ist Wenzl ab sofort wieder zu sehen und zu hören. Mit Viktor Bodó probt sie derweil schon an der nächsten Produktion: Handkes „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten". Vielleicht wird es ja die nächste Nestroy-Nominierung. Alles nur eine Frage der Zeit.
Colette M. Schmidt
April 2009
*Update 2024: An der Burg, in Film und Fernsehen
Nach Engagements am Residenztheater München kehrte Andrea Wenzl 2016 nach Österreich zurück, wo sie unter anderem auf den Bühnen des am Volkstheater Wien und dem Burgtheater stand. Im Haus am Ring ist sie seit 2020 festes Ensemblemitglied.
Parallel dazu baute sie ab 2010 eine abwechslungsreiche Film- und Fernsehkarriere auf. Zu ihren frühen Rollen gehören die Filme Die Vaterlosen (Regie; Marie Kreutzer, 2011), der komplexe Familiendynamiken erforscht, und Grenzgänger (Regie: Florian Fliker, 2012), der von Liebe und Verrat an der österreichisch-slowakischen Grenze erzählt. Ab 2019 übernahm sie Rollen in der österreichischen TV-Landschaft, etwa im Landkrimi Das dunkle Paradies (Regie: Catalina Molina, 2019) und in der Krimiserie Tatort (Folge: Die Amme, 2021). Zuletzt spielte sie 2022 die Hauptrolle in der Netflix-Serie Woman of the Dead, einem packenden Drama über eine Frau auf der Suche nach Gerechtigkeit, das internationale Aufmerksamkeit erregte. In den Jahren 2012 und 2013 erhielt sie vom Kurier eine Nominierung für die Romy-Auszeichnung in der Kategorie „Beliebteste Schauspielerin".
Andrea Wenzl hat am Burgtheater eine beeindruckende Bandbreite an Rollen verkörpert, darunter Kassandra in Die Orestie, Abigail Williams in Arthur Millers Hexenjagd und Beatrice in Der Diener zweier Herren. Ihre Wandlungsfähigkeit stellte sie außerdem in Stücken wie Faust und Radetzkymarsch unter Beweis. In der Spielzeit 2020/2021 stand sie in Das Leben ein Traum auf der Bühne und übernahm zuletzt 2022/2023 eine Rolle in Drei Winter von Tena Štivičić. Mit Produktionen wie Alles, was der Fall ist zeigte sie sich zudem von einer philosophischen Seite, indem sie sich intensiv mit Sprachtheorien auseinandersetzte und diese für das Theater interpretierte.
ARTfaces-Redaktion
November 2024