Die Nacht beginnt mit einem Schrei (*)
Warum Schriftsteller intensiver leben müssen als andere
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Valerie Katrin G. Fritsch ist 20 Jahre jung, aber man glaubt ihr, wenn sie sagt, dass sie in ihrem Leben schon viel erlebt hat. Im Sommer 2009 verbrachte sie beispielsweise einige Wochen in Äthiopien und half dort in einem Kinderkrankenhaus mit. Die Erfahrungen von Not, Elend und Schönheit des Landes verarbeitete sie in Fotos und Texten; einer der Texte, „einundzwanzig" betitelt, erschien in der KSG-LiteraturBox der Zeitschrift „korso".
Valerie Fritsch hat Grazer „Akademie für angewandte Photographie" in Graz absolviert und verdient derzeit als Fotografin ihren Lebensunterhalt. In ihren Fotografien schwankt sie zwischen der Unmittelbarkeit von spontanen Momentaufnahmen auf Reisen und einem Hang zu Inszenierungen in ihren sonstigen Arbeiten - vor allem weibliche Akte. Gemein ist den Bildern aus den beiden so unterschiedlichen fotografischen Betätigungsfeldern die Tendenz zu starken Kontrasten.
Als Autorin machte Valerie Fritsch erstmals 2008 auf sich aufmerksam, als ihr Prosatext „Die dritte Regennacht" beim Grazer Minna-Kautsky-Literaturpreis für Frauen ausgezeichnet wurde. Es folgten das Literaturstipendium des Landes Steiermark 2009, ein Preis beim Literaturwettbewerb 2009 der Akademie Graz und das Interesse eines namhaften österreichischen Verlages an den literarischen Arbeiten der Grazerin, die ihr kleines, schwarzes Notizbuch stets bei sich trägt und mit einem Strom an Beobachtungen und Erkenntnissen füllt. „Ich bin immer ganz nah an dem, was ich schreibe", erzählt sie. „Ich mag nicht über eine Stadt schreiben, ohne dort gewesen zu sein, oder über ein Bordell, ohne mindestens eine Nacht darin verbracht zu haben." Viele von Fritschs Texten spielen in Städten - Graz, Amsterdam, Paris -, und in vielen dieser Texte ist Sex ein wiederkehrendes Motiv. „Sex ist Zerbrechlichkeit im Kopf und Zerbrechlichkeit von Körpern, aber ich sehe es nicht als Hauptmotiv in meinen Texten", stellt die Autorin klar. Vielmehr gehe es in ihrer Literatur um die Fülle, die das Leben biete. Fritschs Texte muten assoziativ an, sind schnell geschnittenen und transportieren Inhalte eher auf der Ebene von Bildern denn durch konventionelle Handlungsstränge. Trotz der oft freizügigen Bilderwelten hat diese Literatur weder Pornografie noch Provokation im Sinn. Vielmehr sind Fritschs Texte Ausdruck des Hungers nach unmittelbarer, sinnlicher Erfahrung: „Meine Figuren glauben, finden zu können, was sie suchen, und sie glauben, dass man in einer modernen Großstadtdichtung an gebrochenem Herzen sterben kann und nicht nur an Krebs, aber auch, dass man das beste Leben leben muss, das man leben kann."
Dieser Erlebnishunger macht sich literarisch im expressiven Duktus ihrer Texte bemerkbar. Nächte beginnen darin mit einem Schrei (im Kurztext „Amsterdam"), und Sterben und Gebären „mit zum Verkehr hin aufgerissnen Leibern" sind - im Äthiopien-Text „einundzwanzig" - nur einen Schritt voneinander entfernt. Aufplatzende Wolkendecken und Kondensstreifen, die die unheilbare Wunde des Himmels zunähen, wölben sich über das literarische Paris von Fritsch, wo ihre jüngste, in Arbeit befindliche Prosa angesiedelt ist, die 2010 als Buch erscheinen soll.
„Als Schriftsteller muss man mehr leben als andere", ist Valerie Fritsch überzeugt. „Ich halte es für meine persönliche Verpflichtung, dem Leben auf unterschiedlichste Arten zu begegnen." Ergänzt wird dieser Drang, das Leben in allen Facetten zu erfahren, von politischem Interesse und sozialem Engagement: Fritsch möchte es nicht bei einem einmaligen Engagement in einem afrikanischen Kinderkrankenhaus belassen, sondern Kunst und (aufklärerisches) Handeln generell stärker miteinander verbinden. In der Literatur gehe es ihr um Geschichten, „wo die Menschen nicht nur auseinanderbrechen, sondern auch zusammenkommen. Ich mag die kleinen Momente, in denen sich die Schichten vermischen. Ich will, dass die Wunden der Welt auch irgendwo verheilen in meiner Sprache."
Werner Schandor
Dezember 2009
*Update 2024: Sprache von betörender Schönheit
2010 erhielt Valerie Fritsch unter anderem den Literaturförderpreis der Stadt Graz und das „Start"-Stipendium des Bundes. Im Frühjahr 2011 erschien ihr Romandebüt „Die VerkörperungEN" im Leykam-Verlag. Clemens Setz schrieb damals über die Arbeiten der Fotokünstlerin und Autorin: "... was diese Art von sprachlichen und wirklichen Bildern zu leisten imstande ist: einerseits Abwehr und andererseits als Einladung an die angenehm gefährliche Welt aufgestellte poetische Tableaux zu entwerfen, auf denen man verweilen und der Zeit beim Vergehen, Verletzen und Verheilen zusehen kann."
Clemens Setz war es auch, der Fritsch die Rutsche in den Suhrkamp-Verlag legte, wo 2015 ihr zweiter Roman, „Winters Garten", erschien. Das Buch wurde zu einem der meistbesprochenen und meistgelobten deutschsprachigen Neuerscheinungen im Frühjahr 2015. „Die Sprache, mit der Valerie Fritsch von jenem Riss, der durch die Welt und jeden Einzelnen geht, erzählt, ist von einer betörenden Schönheit, wie man sie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lange schon nicht mehr vorgefunden hat", schrieb beispielsweise der „Standard".
Mit „Wintergarten" gelang Fritsch der Durchbruch. Beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt erhielt sie 2015 den Publikumspreis und den Kelag-Preis. Im Herbst dieses Jahres wurde ihr der Peter-Rosegger-Literaturpreis des Landes Steiermark verliehen.
Auch das Folgebuch bei Suhrkamp, „Herzklappen von Johnson & Johnson" (2020) ernteten hymnische Rezensionen. „Die Welt" schrieb damals: „Fritschs Prosa erzählt klar und dennoch halluzinatorisch, eine Art glühender Lakonie, es ist ein Text, der es schafft, sich immer wieder im Unbewussten des Lesers zu verhaken, und deswegen etwas Invasives hat, so melodisch sind die Sätze, dass das Lesen etwas Körperliches annimmt, man möchte mitflüstern, mitwippen, dem Takt hinterher."
Mit der Veröffentlichung gingen Nominierungen für renommierte Literaturpreise und Top-Platzierungen in den Bestenlisten von ORF und SWR einher. Für die Arbeit an diesem Buch konnte sie auf das „Grenzgänger"-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung und des Literarischen Collpoquium Berlin zurückgreifen. 2020 erhielt Fritsch zudem den Gebrüder-Grimm-Literaturpreis zugesprochen.
2024 erschien ihr dritter Roman bei Suhrkamp, „Zitronen", die Geschichte einer toxischen Mutterliebe, von Fritsch in meisterhafter Manier in traumwandlerische Prosa gegossen „Valerie Fritsch beweist, dass Literatur erst dann groß wird, wenn eine Autorin sich auf ihre Sprache verlassen kann", hieß es im Kultursender SWR2 über das Buch.
Werner Schandor
Dezember 2024