Die Raumgewinnerin
Die Grazer Künstlerin Marie D. Neugebauer nimmt sich verstärkt der dritten Dimension an – zuweilen mit überraschenden Mitteln
Archiv wolle er werden, gab der junge Walter Kempowski auf die Frage nach seinem späteren Berufswunsch angeblich recht nassforsch zur Antwort. Dass Marie Dorothee Neugebauer in ihrer Kindheit ebenso bestimmt Auskunft über ihre Zukunftspläne geben konnte, ist eher unwahrscheinlich. Bei ihr klingt das so: „Ich habe Angst vor dem Vergessen. Deshalb schreibe ich Tagebuch, deshalb zeichne ich, deshalb fotografiere ich."
Egal ob selbst Erlebtes, medial Vermitteltes oder - wie zuletzt im Rahmen der Ausstellung „Lebensgeschichten" im Grazer Kunstverein , in der sie die Geschichte einer Immigrantin aufzeichnete - Fremdbiografisches: Erfahrungen, Eindrücke, Gefühle und Bilder werden gesammelt, durch das Neugebauer´sche Filtersystem geschleust und kehren als Versatzstücke subjektivierter Makro- und Mikrogeschichte wieder. So entsteht ein beständig wachsendes Archiv des Geschehenen ebenso wie ein Bausatz des vielleicht noch Geschehenden, in denen man gemeinsam Geschichten suchen, sortieren, ablegen, verändern, verbessern, verschlechtern oder auch vergessen kann. „Ich überlasse es gerne dem Betrachter, Geschichten aufzulösen und wieder neu zusammenzufügen", meint Neugebauer und stellt ihre Arbeiten zur jeweils individuellen Interpretation und Weiterbearbeitung zur Verfügung.
Mitunter wird das Publikum auch schon frühzeitig in den Arbeitsprozess eingebunden. Bei den „Peep Ateliers" im Grazer Forum Stadtpark gestaltete Neugebauer etwa bereits den Zeichenvorgang als technik-gestützte Maltherapie. Mittels Fernsteuerung konnte man ein Rennauto mit einem daran befestigten Zeichenstift bewegen und so seine Vorstellungen zu Papier bringen. Offen bleibt die Frage, ob das Ergebnis durch diesen zusätzlichen Filter nochmals abstrahiert und also unpersönlicher oder - genau andersrum - ursprünglicher und direkter wird.
Für die Grazer Künstlerin selbst ist die Zeichnung „das direkteste, unmittelbarste Medium der Kommunikation. Das kommt einfach aus mir raus, da fühle ich mich wohler als mit der Sprache." Und eben deshalb habe sie immer schon gezeichnet, „aber nur für mich selbst, tagebuchartig". Beruflich stand zunächst die Fotografie im Vordergrund (Studium bei Eva Schlegel an der Akademie der bildenden Künste in Wien), erst der rumänische Zeichner Dan Perjovschi ermutigte sie, die Zeichnung auch wirklich als künstlerische Ausdrucksform zu wählen. Ein großer Schritt, weil Persönliches plötzlich öffentlich wird, der Mensch Marie D. Neugebauer verletzlich und angreifbar. „Wenn ich fotografiere dokumentiere ich meine Umgebung, die Außenwelt. Eine Zeichnung hingegen, die entsteht in mir, die wächst. Ich fange an zu zeichnen, und dann entwickelt sich das am Papier. Ich bin dann in einer anderen Welt, ganz bei mir."
Im Moment steht gerade die Expansion dieser Welt im Fokus ihres künstlerischen Interesses. „Der Drang zu schichten, auszuufern und in die Dreidimensionalität auszubrechen, zeigt vielleicht auch die Chaotin in mir, die sich künstlerisch immer mehr durchsetzt", meint Neugebauer und ist beständig bemüht, sich Räume anzueignen. Und zwar mit dem Instrument, das dafür vordergründig am ungeeignetsten erscheinen mag. Nicht Beton, Stahl oder MDF-Platten, sondern Spielarten, Sonderformen und subtile Übersetzungen von Bleistiftskizzen mäandern durch den Raum. Die dritte Dimension wird zum Trägermedium für die Zeichnung bestimmt.
Vorsichtig, indem Neugebauer Zeichnungen ausschneidet, rearrangiert, übereinanderschichtet und zu Assoziationswolken verdichtet, wie zuletzt im Museo di Trastevere in Rom. Oder brachial, wie bei ihrem Beitrag zum Projekt „Sculpture at Kells", für den sie ein schmutzigweißes Ungetüm, unklar ob Staubwolke, prähistorisches Gebirgsmassiv oder Atompilz, auf die idyllisch-grünen Wiesen Irlands stellt. Tatsächlich ist‘s ein harmloser Schneehaufen, der - von all seinen Klischees und positiven Konnotationen (Rodeln, Skifahren, Schneeballschlacht) befreit - als „Mein Berg" aus der Heimat der Künstlerin grüßt.
Zur Perfektion bringt Neugebauer das Prinzip „Raumaneignung mit merkwürdigem Instrumentarium" in ihrer Arbeit zur Salzburger Sommerakademie 2008. In einem fein austarierten Verhältnis zwischen zurückhaltender Subtilität und raumfüllender Präsenz, übersetzt sie ihre Zeichnungen in komplexe Konstruktionen aus simplem Draht, lässt sie in die dritte Dimension wachsen und so die Erfahrungswelten britischer Opfer von Messerstechereien erfahrbar werden. Oder eben interpretierbar. Denn auch hier ist das Prinzip nicht Erkenntnisgewinn, sondern radikale Subjektivität. Der Betrachter ist in seinen Assoziationen völlig frei - oder schlicht und einfach überwältigt.
Andreas R. Peternell, März 2010




