Selbsterfindung im Gedicht
Zu Helwig Brunners poetischer Energie
das ist ein gutes Gedicht,
es hält dicht, auch nicht
von dem, was ich denke,
mutet es uns etwas zu,
das ist ein gutes Gedicht,
es vergisst die Methode
und leugnet den Inhalt,
während die Form zerfällt,
draußen steht eine Schale
nach dem Regen in der Sonne,
nach oben offen, das
ist ein gutes Gedicht
(Helwig Brunner, „Süßwasser weinen", 2008)
Helwig Brunner ist die große Ausnahme unter den steirischen Autoren. Das beginnt schon bei seinem ungewöhnlichen Vornamen, der aus einem althochdeutschen Wort für „heil, unversehrt, gesund" gebildet ist und seltsamerweise tatsächlich zu ihm passt. Wer sich unter einem Dichter einen leicht verhuschten Tagträumer vorstellt, der zu keinem anderen Dienst auf Erden taugt als dem Verseschmieden, wird von Brunner eines Besseren belehrt.
Er ist in seinem Brotberuf Geschäftsführer eines ökologischen Planungsbüros - und damit sein eigener Herr - und hat parallel dazu ein umfangreiches, vielgestaltiges literarisches Werk geschaffen. Seine Energie muss unerschöpflich sein, denn außerdem ist der Mittvierziger auch noch Mitherausgeber der Literaturzeitschrift „Lichtungen" und verantwortlich für eine Lyrikreihe der Edition Keiper. Da er sich vermutlich mit dem Biologie-Studium allein unausgelastet gefühlt hätte, ist er obendrein diplomierter Konzertgeiger. Von Hobbys ist mir nichts bekannt. Wie es ihm bei diesem Arbeitspensum auch noch gelungen ist, eine Familie zu gründen, ist mir unbegreiflich. Vielleicht hat der helle Brunner ein dunkles Geheimnis, möglicherweise irgendwann einen diabolischen Pakt geschlossen, vielleicht aber liegt die Wurzel seines Tatendranges tief in der Erde seines Geburtsorts Istanbul. Was weiß ein Fremder.
„Das poetische Gelände [...] ist übersät mit jenen blinden Flecken, die jeden Nahraum dem Zugriff der Objektivität entziehen [...]. Bei allem, was wir nach und nach über unsere Poesie zu sagen wissen, sagen wir doch stets weniger als sie über uns."
Helwig Brunner ist ein reflektierter Künstler. Damit tut sich die österreichische Öffentlichkeit, die mehr das Expressive schätzt, bekanntlich schwer. Es sei leichter Gedichte zu schreiben, als Gedichte zu lesen, hat unser Autor einmal behauptet. Um diesem Übelstand abzuhelfen, hat Helwig mit Stefan Schmitzer den Band „gemacht/gedicht/gefunden. über lyrik streiten" (2011) verfasst. Es ist eines der wenigen poetologischen Zeugnisse der jüngeren Generation. Brunner zeigt darin ein eklektisches, allseits orientiertes Selbstverständnis, gespeist aus einer Fülle von Anregungen aus Literatur und Wissenschaft. Vom Relativismus der Postmoderne verabschiedet er sich in die „Offenheit" „autonomer", ideologiefreier Dichtkunst. Wobei wieder einmal das Hohelied vom Unsagbaren angestimmt wird. (Der Einwand, das sei eine prämoderne Haltung, wird durch den Hinweis auf einen „nicht im Diskurs fassbaren poetischen Mehrwert", ein zeitloses, mystisch anmutendes „Weltwissen", weggewischt.)
Konkreter wird es, wenn der Poet und Öko-Planer bekennt, er hole sich „mein Geld [...] dort, wo es zuhause ist: in der Wirtschaft." Der Satz könnte zynisch klingen, käme er nicht vom ehrenwerten Herrn Brunner, der es vermessen fände, wegen seiner Gedichte von der Gesellschaft „durchgefüttert" zu werden. Für die soziale Absicherung Schreibender fehlt ihm als multiplem Energiebündel, das gleichzeitig eine Firma leiten und seine „Selbsterfindung im Gedicht" vorantreiben kann, verständlicherweise jedes Verständnis.
Neben seinen viel beachteten Gedichten hat Brunner auch traditionell erzählte Prosa veröffentlicht, zuletzt den Roman „Die Zuckerfrau" (2008).
Darin lernt ein vereinsamter Übersetzer eine junge Tschetschenin kennen, die nach Lagerhaft in ihrem Heimatland nach Österreich geflohen ist, wo sie beinahe zur Prostitution gezwungen worden wäre. Die Liebesgeschichte zwischen ihnen wird durch das Einschreiten der Fremdenbehörde beendet, der die mehrfach vergewaltigte Frau für ein Exil nicht traumatisiert genug erscheint.
Helwig Brunner verströmt trotz der vielen Rollen, die er als Dichter, Essayist, Herausgeber, Berater und Förderer im heimischen Literaturbetrieb spielt, nicht die Aura des umtriebigen Funktionärs. Da nicht freischaffend, ist er ein wirklich freier Schriftsteller, der ohne Schielen nach Verkaufserfolgen auf dem lärmigen Marktplatz der Literatur ganz seinem eigenen Antrieb folgt.
Sein Vertrauen in die Wirkungsmacht der Dichtung scheint nicht von tiefem Sprachzweifel angekränkelt. Den literarischen Traditionen an sich aufgeschlossen, steht er definitiv nicht in der Tradition der Wiener Gruppe. Er hat viele - sogar deutsche - Preise erhalten, aber auch manche Schelte. Er gilt manchen als einer der bedeutendsten Lyriker im deutschsprachigen Raum, anderen als konservativer Formkünstler. Was mehr zählt als solche Taxierungen, sind Lyrikbände, deren Titel schon wie Gedichte sind: „Auf der Zunge das Fremde", „Süßwasser weinen" ...
Günter Eichberger
Stand: August 2012