„Muss die Geschichte so geschrieben werden oder ...?“
Der Soziologe und Theaterpädagoge Michael Wrentschur beschäftigt sich mit soziokulturellen Räumen. Seine Kunst liegt im Interaktiven, in der Partizipation, in der Intervention. Eine zentrale künstlerische Ausdrucksweise ist das Forumtheater, eine spezielle Form des Schauspiels, kombiniert mit sozialen, improvisatorischen und partizipativen Elementen.
„Wir machen Öffentlichkeitsarbeit in Form von interaktivem Theater", bringt Wrentschur die inhaltliche Arbeit seines Vereins InterACT auf den Punkt. Seit 1999 thematisiert der Verein gesellschaftliche und politisch brisante Themen mit dem Fokus, die „Unterdrückten" zu Wort kommen zu lassen. Das Forumtheater hilft, gesellschaftlichen Prozessen neue Impulse zu geben, die Sichtweise zu verändern oder einen Blick auf vorhandene Lebenssituationen zu werfen. Im Grunde sei es ein professionell begleiteter Prozess unter künstlerischer Anleitung: „Oft wird über Betroffene geredet, aber sie selbst kommen nicht zu Wort". Und schon sind wir mitten in einem Projekt: Im Jahr 2008 wurde im Steiermärkischen Landtag das Stück „Kein Kies zum Kurven Kratzen" aufgeführt, ein Beitrag zur Armutsbekämpfung. Ein betroffener Politiker meinte nach dem Auftritt, dass ihn die Vorgehensweise emotional berührt hätte, und dass es für ihn eine Veränderung in seiner Perspektive gegeben hätte.
Was ist nun das besondere am Forumtheater? - Es ist ein Theater in Form von politischem Handeln, das gesellschaftliche Zustände schildert. Das Konzept stammt ursprünglich aus Brasilien und wurde von Augusto Boal begründet. Er nannte seine Form des Theaters „Theater der Unterdrückten" und meinte damit ein diskursives Theater, das gesellschaftliche, politische und soziologische Zustände aufzeigt und kreativ bearbeitet. „Wir integrieren Elemente des Improvisationstheaters und des Sprechtheaters", sagt der versierte Theaterpädagoge Michael Wrentschur. Das Schreiben eines Stückes sei schon das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses. Das geschieht alles unter einer künstlerischen Endverantwortung, einem Regisseur, der den Prozess begleitet. Bis dahin ist das Setting fixiert, das Stück aufführungsreif - und hier setzt dann die Besonderheit eines Forumtheaters ein: „Bestimmte Szenen werden für das Publikum freigegeben." - Damit erhält das Publikum die Chance, in den Prozess einzugreifen und alternative Handlungsmöglichkeiten in dem Stück vorzuschlagen, in dem man die Seite vom passiven Zuseher zum aktiven Schauspieler wechselt. Damit bekommt das Stück eine neue Dynamik, einen anderen Handlungsverlauf, neue Perspektiven, neue Handlungsfelder und unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten.
„Im Forumtheater geht es um ein Zusammenspiel von schauspielerischer und sozialer Kompetenz. Wer in ein Stück einsteigt, wird in seiner Wahrnehmung und Offenheit gefordert - genauso wie die DarstellerInnen", sagt Wrentschur. Das Forumtheater sei keine Kunst um der Kunst willen. Aber: Umso qualitativ hochwertiger und umso professioneller ein Stück erarbeitet worden ist, desto intensiver die Auseinandersetzung und Wirkung. „Es braucht für diesen Zugang absolute Qualitätsansprüche, dann können sich die Dinge auf der sozialen und politischen Ebene entfalten", ist der Soziologe überzeugt. Die DarstellerInnnen ringen in ihrer Rolle darum, diese und deren Verhaltensweisen innerhalb sozialer Zwänge und Strukturen zu verstehen: „Wie bringen wir emotionale Wahrheit zum Ausdruck?", lautet die dahinterstehende Überlegung - und in weiterer Folge: Was bedeuten Handlungsweisen für die Entwicklung einer Geschichte? Hier stellt sich Wrentschur dann die entscheidende Frage: „Muss die Geschichte so geschrieben werden, oder kann sie auch anders geschrieben werden?"
Beinhaltet das Forumtheater also auch einen Weltverbesserungsgedanken? - Wrentschur: „Es steckt kein Idealismus dahinter, das wäre zu naiv, aber es geht immer auch um die Frage, was es an Veränderung braucht und wo sie ansetzen könnte. Dazu eröffnen wir einen kreativ-ästhetischen, interaktiven Er-Probungsraum." Das Forumtheater biete elaborierte Zugangsweisen, die mit Veränderungen von Entwicklungsprozessen einhergehen. Das diskursive Element eines Dialogs stehe im Mittelpunkt. Momentan beschäftigt sich InterACT mit „JUNG. PLEITE. ABGESTEMPELT. ... SUCHT: DAS GUTE LEBEN!", einem Stück, das mit und für junge Erwachsene erarbeitet worden ist. Im Bezirk Hartberg wird mit „Reich an Leben" an der Problematik älterer Menschen und ihrer Isolation durch Geldmangel gearbeitet. In der Grazer St.-Andrä-Schule wird das Projekt „TRANSition St. Andrä. Ein Forumtheater zu den Wegen in die Schule" im Rahmen des Schwerpunktes „Transkulturelles Zusammenleben" verwirklicht. Heuer im Herbst wird ein theatrales Labor für Alternativen mit dem Titel „Future Games" ins Leben gerufen, das sich mit Konzepten „nach der Weltwirtschaftskrise" beschäftigen wird. Im Zentrum: Gemeinwohlökonomie, Überwindung des Kapitalismus sowie gesellschaftliche und wirtschaftliche Alternativformen. Anhand banaler alltäglicher Dinge werden diese Themen auf eine Handlungsebene gebracht. „Irgendwie haben wir immer ein Gefühl für gesellschaftliche oder politische Notwendigkeiten, die in der Luft liegen."
Wrentschur hat seit seinem 20. Lebensjahr Erfahrungen in der Theaterarbeit und Theaterpädagogik gesammelt. 1993 bis 1997 war er Mitglied der Wiener Forumtheatergruppe im WUK, 1994 begann er mit theaterpädagogischen Projekten an der Grazer Universität. Diese pädagogische Theaterarbeit war ein Vorläufer des Projektes „Permanent Breakfast", eine improvisierte, bildungspolitische Aktion im öffentlichen Raum, bei der an allen möglichen Orten und Plätzen in Graz gefrühstückt wurde. Auch heute noch gibt es Formen dieses Frühstückens, beispielsweise jährlich beim „Lendwirbel", einem vielschichtigen künstlerischen und kulturellen Miteinander im Grazer Bezirk Lend.
Nach einem Workshop 1999 mit David Diamond vom Vancouvers „Headlines Theater", der das „Theatre for Living" entwickelt hat, gründete Wrentschur in Graz InterACT als Verein für das soziokulturelle und künstlerisch anspruchsvolle Forumtheater. InterACT ist mittlerweile ein Team, das aus sechs Menschen beschäftigt. Die Arbeit wird dem Verein aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Situation nicht ausgehen: „Wir sind ständig herausgefordert, manchmal überlastet, aber wir müssen auch ständig weiter tun."
InterACT im Internet: www.interact-online.org/
Petra Sieder-Grabner
Stand: April 2013








