Intensiver Blick auf Orte
Der Grazer Fotograf Erwin Polanc haucht in seinen künstlerischen Serien über Neumarkt und Eisenerz der dokumentarischen Fotografie neues Leben ein.
„Es gibt keinen Ort, der perfekt ist. Daher interessiert es mich nicht, auf die Postkartenansichts-Seite zu schauen, wo jeder hinschaut." - Der Grazer Fotograf Erwin Polanc, der diese Sätze sagt, richtet den fotografischen Blick in seinen Bildserien konsequent auf die Rückansichten von Orten: Spuren abgerissener Häuser in bestehenden Bauten; Schrottautos vor Abraumhalden, die von wuchernden Bäumen eingerahmt werden, im Hintergrund eine Bergkuppe. Dazwischen immer wieder Stillleben, die den Stillstand des Lebens zum Ausdruck bringen: der leere Aschenbecher auf einem unbesetzten Stammtisch; zwei zum Trocknen aufgehängte Blaumänner vor einem geschlossenen Garagentor. Und inmitten dieser Alltags-Tristesse immer wieder, als eigentliches Zentrum der Bildserien, Porträts der Menschen, die hier leben und die ihren Blick meist direkt in die Kamera richten.
Zwei Orte hat Polanc bislang auf diese Weise in einer Abfolge aus Architektur- und Porträtfotografie und Raumstudien fotografisch vermessen: Neumarkt in der Steiermark (samt Umgebung) und die traditionsreiche ehemalige Bergbaustadt Eisenerz, die zum Synonym für Entvölkerung und wirtschaftliche Depression geworden ist. Die Serien sind nach den Postleitzahlen der Orte benannt: „8820+/-" für Neumarkt und Umgebung und „8790" für Eisenerz. „Eigentlich wollte ich mit Eisenerz beginnen", erzählt der Fotograf, Jahrgang 1982, der in Neumarkt aufwuchs. „Doch bei den ersten Besuchen habe ich gemerkt, dass ich nicht verstehe, wie der Ort funktioniert. Deshalb habe ich mit der Serie über meinen Heimatort begonnen."
Der Bezirk Murau, zu dem Neumarkt gehört, weist demografisch eine überdurchschnittlich hohe Abwanderung vor allem von Jugendlichen auf und hat eine der höchsten Selbstmordraten in Österreich. Auch hier macht sich - weniger augenfällig als in Eisenerz, aber nicht weniger problematisch - die Kehrseite einer auf wirtschaftliches Wachstum fixierten Gesellschaft breit.
Erwin Polanc absolvierte das Kolleg für Fine Art Photography und Multimedia Art an der Grazer Ortweinschule („eine irrsinnig gute Grundlage") und studierte im Anschluss an der Donau-Universität Krems „Image Sciences". „Dort ging es viel um die Frage, was ein Bild in der heutigen Welt leisten kann", erzählt der Fotograf, der nun selbst als Lehrender an der Ortweinschule tätig ist.
Seine Bilderserien entwickelt er in einer langsamen und kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Orten, die er über Monate hinweg immer wieder aufsucht. „Erst wenn die konkrete Bildidee steht, gehe ich an die Umsetzung des Bildes." Dabei arbeitet der Fotograf bewusst langsam mit einer analogen Mittelformatkamera, einem Stativ und dem vorhandenen Licht. Polanc beschränkt seine Ausschnitte meist auf einen Bereich, in dem sich die stille Spannung seiner Bilder perspektivisch in konfrontativer Linienführung und mitunter auch in verzerrten Größenverhältnissen entlädt. Zum Beispiel sein Porträt eines jungen Mannes in der Tracht der St. Mareiner Blasmusikkapelle: Er steht mitten auf einem Kanaldeckel wie frisch vom Ufo dort abgesetzt, links neigt sich ein Strommast ins Bild, das trapezförmig nach hinten zulaufende Werkstatt- oder Stallgebäude rechts im Bild und das Haus im Hintergrund wirken verwirrenderweise eine Spur zu klein im Vergleich mit der hageren Größe des jungen Mannes im Trachtengewand. Diese Verunsicherung, die Erwin Polanc durch die Wahl der Perspektiven und Ausschnitte schaffen kann, setzt er konsequent in der dritten und fortlaufenden Bilderserie um, „Swindle" heißt sie bezeichnenderweise.
Doch zurück zu Neumarkt und Eisenerz: Den Leuten, die er für seine Ortsserien porträtiert, schlägt Polanc keine Posen, sondern lediglich den Ort vor, wo sie sich platzieren sollen: „Wenn ich dann meine Kamera aufbaue und die Menschen darauf warten, dass ich mit dem Fotografieren beginne, haben sie meist für sich eine Pose gefunden, die ich gut finde." Seine „Models" spricht der Fotograf in Gasthäuser und Cafés oder auf der Straße an. „Manche weigern sich anfangs, aber wenn ich eine Idee im Kopf habe, wie ich einen Menschen fotografieren könnte, kann ich sehr hartnäckig sein", erklärt Polanc, der im Gespräch sehr umgänglich wirkt. Vielleicht spüren die Menschen im Kontakt mit ihm auch, dass es ihm fernliegt, jemanden bloßzustellen. Ergibt sich auch nur der leiseste Verdacht, dass man ein Bild als Bloßstellung des Abgebildeten empfinden könnte, nimmt es Erwin Polanc lieber aus der Serie.
Für „8820+/-" wurde Erwin Polanc 2012 mit dem Förderpreis für Fotografie der Stadt Graz ausgezeichnet, die damit seine Leistungen am Gebiet der dokumentarischen Fotografie würdigte, und er wurde im Jänner 2013 zur international renommierten „Plattform" des Fotomuseums Winterthur in der Schweiz eingeladen. „Dem Fotografen gelingt eine überzeugende Gratwanderung", schreibt Ulrich Rüter schon im Sommer 2012 in der deutschen Zeitschrift „Photonews" über „8820+/-": „Weder verspottet er die Provinzialität des Ortes und seiner Bewohner noch überhöht er Neumarkt zu einem touristischen Sehnsuchtsort. Mit unverstelltem Blick, präziser Beobachtung und genauer Ortskenntnis hat er eine Serie geschaffen, die beispielhaft die Befindlichkeiten eines kleinen Ortes in der Provinz beleuchtet."
Werner Schandor
Stand: Juni 2013