Filter in Bewegung
Jessie Servenay hat von Frankreich nach Graz und hier zu ihrem eigenen Weg gefunden, aus Tanz Kunst zu machen.
Zugegeben. Am Anfang war ich vor allem skeptisch. Als ich Jessie Servenay auf einer Premierenfeier kennen lernte, erzählte sie mir von einem Tanzprojekt, das sie sich ausgedacht hatte. Was da vorlag, war eine scheinbar vage Idee, für die es weder einen Projektplan gab, noch ein Projektteam oder gar Geld, kein Netzwerk, keinen Ort, nicht einmal einen Probenraum. Doch ich kannte Jessie ja noch nicht, hatte sie noch nie tanzen gesehen, und vor allem wusste ich nichts von ihrer Geschichte. Wie hätte ich davon auch wissen sollen, diese Geschichte war eben erst dabei, sich zu ereignen.
Damals stand Jessie Servenay genau dort, wo sie jeder Heftromanschreiber am Beginn seines Heftromans hingestellt hätte: Die junge Frau aus Frankreich, Tochter eines Künstlerpaares, hatte es von Paris, wo sie Kunstgeschichte studiert und tanzen gelernt hatte, nach Graz verschlagen. Hier fand sie sich wenige Jahre später wieder als alleinerziehende Mutter in einem fremden Land, das sie samt seiner Sprache erst allmählich zu verstehen begann. Ohne Job. Ohne soziales Umfeld. Und, ach ja, natürlich ohne Kontakt zur hiesigen Tanz- und Theaterszene. Oder nein, das stimmt nicht ganz: Bereits 2002 hatte Jessie über den Theaterverein UniT erste Bekanntschaften mit Theaterschaffenden gemacht. Aber wie sagt sie selbst: „Die Dinge kommen zu dir, wenn die Zeit dazu reif ist."
Jessie konnte kein Deutsch, aber sie konnte „mit dem Körper improvisieren". Bereits damals, bei ihren frühen UniT-Produktionen, verflossen für sie dadurch die Genres. Aber erst die Austrian Choreographic Platform 2009 in Graz brachte sie wirklich zurück zum Tanz. Die Folge war, dass sie noch im selben Jahr ihr erstes Solo „intimität triptik" entwickelte. Einfach so. Möglich wurde das unter anderem, weil das Theater im Bahnhof ihr anbot, kostenlos in seinen Räumen zu proben. Und bekannt wurde das Solo, weil das TTZ die Reihe „Sprungbrett Tanz" ins Leben rief, bei der jeweils drei neue Tanzarbeiten der jungen Szene vorgestellt wurden: Jessie reichte spontan ein und wurde mit der Rohfassung ihres ersten Solos für die erste Ausgabe des neuen Festivals ausgewählt.
Das Einnehmende an Jessie Servenays Tanz ist die Leichtigkeit, mit der sie Bewegung in Ausdruck übersetzt. Ihre Kunst ist konzeptionell, professionell und außerdem intellektuell aufgeladen, wirkt aber immer wie selbstverständlich. Das hat überzeugt. Zurück im Proberaum des Theater im Bahnhof begann Jessie - um einige Rückmeldungen reicher - an ihrem nächsten Solo zu arbeiten: So entstand „folklorität", eine Choreographie als feministisch motivierte Erforschung von Frauenrollen, die sie nie öffentlich gezeigt hat.
Eine Arbeit, die ungespielt als Videokassette „im Schrank verschwindet", das ist ein guter Anlass für den Heftromanautor, der Geschichte durch eine neue Wendung wieder neuen Drive zu geben. Neue Wendungen haben in Geschichte dieser Art meist ihren Grund in der Vergangenheit: Die Prinzessin entdeckt ihre Herkunft, das Genie sein ererbtes Talent. Jessie fand den Jazz. Oder besser: Sie fand zu Jazzmusikern. Als Kind hatte sie mit ihren Künstlereltern in einem Haus gewohnt, in dem sich auch ein Jazzclub befand. Die Musiker - darunter zahlreiche internationale Größen - gingen hier aus und ein, durften übernachten, lebten ein Stück mit. Jazz ist für Jessie folglich schon immer „eine angenehme Welt" gewesen. In Graz brachte sie die Begegnung mit der hiesigen Szene, zu einer Form der Kooperation, die ganz ihrem Wesen entspricht: eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, eine fließende Fusion der Genres und Sparten, der Inhalte und Assoziationen.
„Mein Körper ist ein Filter in Bewegung, um die Welt zu erfassen", schreibt Jessie Servenay über sich selbst. „Schreiben ist für mich ein Muss, Zeichnen ein Bedürfnis und eine Freude. Ich tanze für die Balance. Ich forsche, um zu versuchen, meine Epoche zu verstehen." Mit Valentin Czihak am Kontrabass entwickelte sie eine erste Begegnung von Jazz- und Tanzimprovisation, die den „4 Jahreszeiten" gewidmet war, in „zeit auf-nehmen" wurde dieser Ansatz durch fotografisch festgehaltene Momente zu einem Gesamtkunstwerk vernetzt. Das, was auf der Bühne passiert, ist für Jessie Servenay erfüllte Zeit: radikale Gegenwärtigkeit. Insbesondere dann, wenn Live-Improvisation stattfindet. Dieses Konzept begegnete in „zeit auf-nehmen" der Möglichkeit, solcherart erfüllte Zeit festzuhalten.
Im Gemeinschaftsprojekt „orpheus & eurydike" wurde die Kooperation von Tanz und improvisierter Musik noch einmal um komponierte Musik von Andrés Gutierrez, interaktives Sounddesign von Marian Weger und eine gewaltige Bühneninstallation von Lisa Horvath erweitert. Ein Gesamtkunstwerk, in dem man keinem Genre Vorrang gab. Für 2014 ist mit „statt körper" eine ähnlich aufwendige Kooperation in Arbeit, die erneut ganz grundsätzliche Fragen stellt. Scheint fasst, als wäre die Künstlerin Jessie Servenay angekommen. Aber das scheint nur so. „Am Weg bleibe ich stehen, ich beobachte, ändere meine Richtung, denn ich will nie vergessen zu lernen, die Welt neu anzuschauen."
Hermann Götz
Stand: Jänner 2014