Vom Glück, in einem Sozialstaat zu leben
Ein Versuch über Egon Christian Leitner, der mit seiner Sehnsucht nach Menschlichkeit und Individualismus in Zeiten des funktionierenden Massemenschen eine solitäre Randfigur im österreichischen Kulturbetrieb darstellt.
Plädoyer für Veränderung
Egon Christian Leitner steckte viel Energie und Intelligenz in seinen über 1.200 Seiten starken sozial- und gesellschaftspolitischen Aufschrei, als den man seinen Sozialstaatsroman lesen kann. Wie auch als Plädoyer für Veränderung: in der Schule, im Krankenhaus, im Elternheim, in Flüchtlingshäusern und Asylantenheimen, in der Familie und im gesellschaftlichen Zusammenleben. Wobei sich Leitner im Verlauf der Lektüre weder als unbelehrbarer Sozialist noch als naiver Spinner entpuppt. Seine Lösungsansätze zielen auf Fehlerminimierung und sanfte Revolutionen, die in einem kontinuierlichen Fluss kleiner, aber ständiger Veränderungen die Gesellschaft sozialer und die Menschen zufriedener machen. Im Widerstreit zwischen dem Verlangen nach umfassender Menschlichkeit und dem Streben nach größtmöglichem Individualismus in einer Welt der zunehmenden Ungleichheit denkt und schreibt Leitner stets aus dem Bewusstsein, dass dort, wo die (einfachen) Menschen sich abmühen und oft straucheln, die wirklichen Wahrheiten fernab staatspolitischer und gesellschaftlicher Realitäten zu finden sind. Im Zentrum von Leitners Sozialstaatsroman stehen Menschen, die Hilfe benötigen, und Menschen, die Hilfe leisten (wollen). Und das in einer verrohten und hartherzigen Welt. So erzählt er im ersten Band „Lebend kriegt ihr mich nie" vom „Opfer"-Kind Uwe, das seine Kindheit als unerbittliche Zeit der Peinigung und Unterdrückung erlebt. Uwes Heranwachsen ist eine einzige Leidenserfahrung. Sein Vater, ein politisch protegierter „höherer Beamter", ist zuhause ein Familientyrann, der brüllt, tritt und schlägt, um Eigensinn oder Widerstand erst gar nicht aufkommen zu lassen. Leitner beschreibt eine Welt, in der Machtausübung, Unterdrückung und Gewalt als probate Mittel des Kleinkriegens und Kleinhaltens gelten. Und die Familie, die Verwandten und Bekannten, letztlich das ganze Dorf, sieht aus Feigheit weg. Uwe fügt sich zwar in die Leidensrolle, lässt sich aber nicht brechen. Im zweiten Band, „Furchtlose Inventur", versucht Uwe, inzwischen erwachsen und mit starkem Willen und großem Herz ausgestattet, seiner schwerkranken Mutter und seiner sterbenskranken Tante zur Seite zu stehen und die beiden auf ihrem Weg durch die staatlichen Hilfsstationen unterstützend zu begleiten - nicht ohne erfahren zu müssen, dass seine Hilfe sehr oft nicht erwünscht ist. „Des Menschen Herz, es muss geschunden werden, sonst will´s und will´s nicht sterben", heißt es in „Furchtlose Inventur" einmal. Der Autor Leitner weiß, wovon er erzählt - war er doch selbst viele Jahre in der Alten- und Krankenpflege sowie in der Flüchtlingshilfe tätig und schöpft so aus einem großen Fundus von Erfahrungen.
Beharrungsvermögen eines kritischen Querdenkers
Die Automatismen staatlich-professioneller Hilfeleistung und die Routine der Systeme werden von Leitner nicht nur detailgenau und schonungslos beschrieben, Leitner denkt auch darüber nach, ob es Alternativen gäbe und wie die umsetzbar wären. Seine Hoffnungsträger heißen Eigenverantwortung, Eigensinn, Mündigkeit, Solidarität und Menschlichkeit. Er weiß aber, dass es bis zur sinnvollen und erfolgversprechenden Zusammenführung von Hilfsbedürftigkeit und Hilfeleistung noch ein weiter Weg ist. „Zu leicht lassen sich Menschen voneinander trennen", meint Leitner, „absurderweise oft durch die Hilfssysteme selbst, durch die Berufshelfer." Im dritten Band seines Sozialstaatsromans, der mehr als 600 Seiten umfassenden Sammlung seiner Werk- und Denktagebücher („Tagebücher 2004 - 2011") präsentiert sich der Autor als kritischer Querdenker, den neben einer solidarisch-sozialen Grundhaltung vor allem sein stoisches Beharrungsvermögen auf der Suche nach einem alternativen Weg auszeichnet. Die radikal-subjektiven und nicht um substanzlosen Konsens bemühten Tagebucheintragungen und Notizen geben dem Leser einen tiefen Einblick in das Denken und Handeln eines Denkers, der sich an der Realität sozialer und gesellschaftspolitischer Widersprüche reibt, ohne dabei die gesellschaftliche Bodenhaftung und die solidarische Grundhaltung zu verlieren. Für sein aufrechtes Nicht-aus-dem-Weg-Gehen erhielt Leitner 2013 den Literaturförderungspreis der Stadt Graz.
„Zur frohen Zukunft" heißen die jüngst im Wieser Verlag publizierten Werkstattgespräche, die Leitner viele Jahre hindurch mit Adolf Holl geführt hat. Leitners Opus magnum „Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman" gleicht bei entsprechender Dosierung einem rezeptfreien Medikament, das zumindest für Linderung der Leiden sorgt. Ob es danach zu einer „frohen Zukunft" reicht, bleibt offen (und zu hoffen). Im Frühjahr 2015 erscheint jedenfalls Band 2 der von Egon Christian Leitner herausgegebenen Reihe „Auswege", nämlich: "Vom Helfen und vom Wohlergehen oder Wie man die Politik neu und besser erfinden kann. Gespräche mit Markus Marterbauer, Friedrich Orter und Werner Vogt."
Heimo Mürzl
Stand: Februar 2014