„Es geht nicht um mich.“
Die vielseitige Künstlerin, Kuratorin und Organisatorin Andrea Schlemmer „arbeitet ein Thema nach dem anderen ab“. Neugierde und das Finden von Neuem sind dabei ein wichtiger Motor für die 45-Jährige. Und: Langweilig ist ihr nie.
Ihre Biografie gleicht einem Kaleidoskop voller Vielfalt, Abwechslung und Bewegung.
Geboren und aufgewachsen in Graz, absolvierte sie die beiden letzten Schuljahre in Belgien an einem internationalen Gymnasium. Danach begann sie in Graz mit dem Kunstgeschichte-Studium, das sie ziemlich schnell wieder abbrach. Das Zeichnen von Karikaturen während der Vorlesungen verdeutlichte ihr, wie langweilig sie dieses Studium fand. Da sie die Fotografie schon seit Jugendtagen begleitete, wollte sie sich mit einer Lehre zur Fotografin diesem Metier widmen. - Sie absolvierte erfolgreich die Berufsschule (als außerordentliche Hörerin), aber die Lehre selbst schloss sie aus privaten Gründen (Geburt ihres Sohnes) nicht ab. Nach einer Auszeit studierte sie von 1994 bis 2001 Erziehungs- und Bildungswissenschaften sowie das Fächerbündel „Bühne, Film und andere Medien" in Graz. Im Grunde hätte sie gerne an der Angewandten oder an der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert, aber sie hatte - nach eigener Aussage - nicht den Mut, mit einem Kleinkind nach Wien zu gehen. Die Fotografie aber blieb ihr ständiger Begleiter und brachte sie auch zur Auseinandersetzung mit dem Thema „Körper", dem sie sich fortan immer stärker widmete.
Nach dem Abschluss des Studiums an der Universität absolvierte sie das Feministische Grundstudium am Rosa-Mayreder-College in Wien. „Das hat mir die Augen geöffnet", erinnert sich Schlemmer an eine „wütende Zeit" damals. Die Suche nach Gleichgesinnten sowie das zentrale Thema der Stellung der Frau in der Gesellschaft brachte sie dazu, 2002 ihr erstes Künstlerinnenkollektiv „LTNC - lady tigers nicht club" zu gründen. Gemeinsam mit Künstlerkolleginnen wurden feministische Theorien und Praxen im geschützten Raum diskutiert und in die eigene Arbeit integriert. Neben worklabs (ESC im Labor) und regelmäßigen „Roten Salons" fanden auch Aktionen und Ausstellungen (im Dominikanerkloster etc.) statt.
„Ich war auf der Suche nach meinem Platz (als Frau) in der Kunstwelt." Die Suche, das Entdecken, Verweilen und Verändern in einem feministischen Kontext ist für sie immer eine Mischkulanz aus persönlichen, sozialen und politischen Positionen. Ihr Ausstieg aus dem LTNC war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sie als Feministin nicht in die Ecke der „Frauenkunst" eingeordnet werden wollte. Heute spricht sie von sich als Humanistin, der es in vielerlei Hinsicht um Gerechtigkeit geht. „Ich bin nicht mehr wutgesteuert in meinen Ansichten, es hat keinen Sinn, nur dagegen zu arbeiten."
Schlemmer versuchte sich auch in der Theaterregie und entwickelte mit „Interfashion" eine Veranstaltungsreihe, die sich mit Mode im interdisziplinären Kontext beschäftigt. „Das Quartett", ein Zweipersonenstück von Heiner Müller, brachte sie 2008 in Zusammenarbeit mit Claudia Holzer im Forum Stadtpark in Graz zur Aufführung. Mit ihr gründete sie auch das Künstlerinnenkollektiv FLEXI, das in Performances ironisierend sozialpolitische Positionen auslotete. Von der Oper „Lulu" von Alban Berg wurde etwa das Libretto des dritten Aktes neu geschrieben, aktualisiert und als „Opera Flexa in drei Akten, Dekonstruktion einer 12-Ton-Oper" im Grazer Nonstop-Kino einmalig aufgeführt. 2010 organisierte Schlemmer gemeinsam mit Kollegin Doris Psenicnik eine groß angelegte Modefotografieausstellung mit namhaften international tätigen ModefotografInnen, Lectures, und Performances.
„Ich bin im Erschließen von Neuem besser als im Erhalten", so die Künstlerin. Sie ist eine Initiatorin, wo immer sie sich bewegt. Seit 2010 wohnt sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Bernd Heinrauch, Musiker und Produzent, in der Südoststeiermark. Dort rief sie die Kulturinitiative „Die Mühle" ins Leben und gestaltete vier Jahre lang zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen mit regionalen, nationalen und internationalen KünstlerInnen. Im Rahmen des Jahresprogramms „Die konkrete Utopie - wie wir leben wollen" fand auch „Interfashion #3 - Mode als soziale Skulptur" statt. In dieser Zeit vernachlässigte sie ihre eigene Kunst, wie sie selbst sagt: „Das rein Organisatorische und Kuratorische war mir dann aber einfach zu wenig."
Im Laufe der Jahre veränderte sich aber auch ihr Zugang zur künstlerischen Arbeit: „Es ist nicht alles nur Ernst. Ich will, dass man auch den Humor, der dahinterstecken kann, spürt. Und ich nehme mich selbst nicht mehr so wichtig."
Ihre eigene Kunst entwickelt Schlemmer aus der Innen- und Außenwahrnehmung, aus Persönlichem, Zwischenmenschlichem und Politischem. Sie ist empfänglich für „manchmal zu viele" Energien und in ihrer Arbeit mehr emotional denn intellektuell. Das ist auch der Grund („Ich kann mich sehr hineinsteigern."), warum sie ausgiebige Ruhephasen braucht. „Die befriedigendste und luxuriöseste künstlerische Arbeit ist jene, die eine zu einem Kanal werden lässt für all das Empfundene und Erlebte, was aufgezeigt, benannt, verändert werden will und im Außen nach Ausdruck sucht."
Thematisch konzentriert sie sich auf den menschlichen Körper. In ihrer Diplomarbeit an der Ortweinschule - Meisterklasse für Malerei, die sie im Sommer 2016 abschloss, fertigte Schlemmer sogenannte „Moulagen", realitätsgetreu anmutende Körperteile aus Wachs, her. Derlei Objekte kommen ursprünglich aus der Medizin und dienten früher Anschauungszwecken. Unter dem Titel „Wider dem Vergessen" spielt Schlemmer mit ihren Objekten auf Leichenteile von im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen an.
In ihrer jüngsten Ausstellung als Ortweinstipendiatin des Landes Steiermark präsentierte die Künstlerin „YOUNG | WHITE | MALES" zwei Videoprojektionen. Auf der einen Seite sah man Haut in Großaufnahme, die körperliche Zeichen von Angst, wie Schwitzen oder Frieren, zeigte, gegenüber war eine Hand mit Narben, Spuren vergangener Ereignisse, zu sehen. Verstärkt wurde die Ausstellung von einer Audioinstallation, in der eine Geschichte über Bootsflüchtlinge im Stil einer positivstimulierenden Meditation erzählt wurde. Diese Widersprüchlichkeit unterstrich den Charakter der Installation.
Für den Frühling 2017 hat sie sich die Herstellung eines Katalogs mit einer Werkschau vorgenommen. Auch verspürt sie den Drang, wieder zu malen. Und ihr Thema „Körper" ist noch lange nicht zu Ende gedacht.
Petra Sieder-Grabner
Jänner 2017