Unerkannte Weltklasse
Man kann nicht behaupten, dass Chien-Chi Chang in seinem Metier ein Unbekannter wäre: Der 1961 geborene Taiwanese ist Mitglied der Elite-Fotoagentur Magnum Photos in New York, seine Bilder werden in Museen in Amerika, Asien, Europa und Australien gezeigt, und sogar auf Instagram hat er über 100.000 Follower. Was aber kaum einer weiß: Der Fotograf und Videokünstler hat seit mehreren Jahren auch einen Wohnsitz in Graz.
International bekannt wurde Chien-Chi Chang mit seiner Serie „The Chain", mit der er Taiwan anno 2001 bei der Biennale in Venedig vertreten hat. Die Serie zeigt Insassen einer psychiatrischen Anstalt in Taiwan, paarweise miteinander verbunden durch Eisenketten, damit keiner ausbüchsen kann. Besucher des taiwanesischen Pavillons nahe des Markusplatzes fanden sich auf drei Seiten umgeben lebensgroßen Bildern diese ärmlich gekleideten, über die Kette miteinander verbundenen Gestalten - mitten drinnen im Elend ihrer Existenz. „The Chain" war seitdem unter anderem in São Paolo und in Sydney zu sehen.
2004 dokumentierte Chang in der Fotoserie „Double Happiness", wie sich Männer aus Taiwan über Heiratsvermittlungsinstitute junge Frauen aus Vietnam aussuchen. In den Gesichtern der Mädchen, die „erwählt" werden, spiegeln sich Ratlosigkeit, Ausweglosigkeit und nur in seltenen Fällen so etwas wie Zuversicht. „Meine Freunde in Taiwan wollten immer, dass ich heirate", erzählt Chang über die Entstehung der Serie und des Fotobuches. „Das war der Anlass für mich, zu zeigen, wie ich die taiwanesische Heiratsindustrie sehe."
Chien-Chi Chang hat immer wieder auch Aufträge als klassischer Fotoreporter angenommen. Ausgestattet mit Analogkameras begleitete er 2007 im Auftrag von „National Geographic" die Flucht einer Gruppe nordkoreanischer Christen durch ganz China über Laos bis ins sichere Thailand, von wo aus sie nach Südkorea gelangen konnten. „Sechs Wochen lang war ich mit der Gruppe unterwegs, immer in Sorge, entdeckt zu werden." - Denn von China aus wären die Nordkoreaner zurückgeschickt worden und sofort in Haft genommen worden.
Studium in den USA
Chang kam in den 1980er-Jahren über ein Studium der Medienpädagogik in Bloomington, Indiana zur Fotografie. Ermuntert von zwei Professoren hat er für die Campuszeitung fotografiert, die sechs Mal in der Woche erschien und in ganz Bloomington gelesen wurde. Später arbeitete er als Fotograf für die Seattle Times und die Birmingham Post. Schon in seinen frühen künstlerischen Arbeiten in den 1990er-Jahren kristallisiert sich bereits eines der Leitthemen heraus, die ihn bis heute beschäftigen - die Frage, wie Menschen mit Entwurzelung umgehen.
Dem Fotografen wurde anlässlich Fotoserie „The Chain" in einer Kritik vorgeworfen, dass er keine Empathie mit den abgebildeten Menschen erkennen lasse. Aber wer seine 1992 begonnene Serie „Chinatown" betrachtet, weiß, dass diese Kritik zu kurz greift. In „Chinatown" - ein paar Bilder daraus waren 2011 bei der Biennale in Venedig zu sehen - porträtiert Chang seit über zwei Jahrzehnten hinweg Chinesen, die illegal in Chinatown in New York leben und Hilfsarbeiten verrichten, um Geld die an ihre Familien zu schicken, die in der chinesischen Millionenstadt Fuzhou zurückgeblieben sind. Manche der Familien haben sich über 15 Jahre lang nicht gesehen: Die Männer leben in ärmlichen Wohngemeinschaften in großen Mietshäusern, ihr Alltag besteht aus Schuften und Schlafen. Die US-Dollars, die sie nach Hause schicken, ermöglicht ihren Familien in China ein komfortables Leben und eröffnet den Kindern, die ohne Väter aufwachsen, zumindest eine schulische Perspektive in ihrem Land.
Bilder, die bewegen
Die Bildserien von „Chinatown" hat Chien-Chi Chang im Nachhinein zu mehreren Videos verdichtet, die das Leben in den USA und in China in einem Nebeneinander aufzeigen. Auch zu seinen jüngeren Arbeiten - zum Beispiel über die Vertreibung der Rohingya aus Myanmar (2016) und die Fluchtroute der Syrer nach Europa (2016) - hat Chien-Chi Chang Videos gemacht, die aber nicht mehr - wie in frühen Filmen - aus aneinandergereihten, sondern aus eigens gefilmten Sequenzen bestehen.
„Still images can be moving and moving images can be still. Both meet within soundscape", wird Chien-Chi Chang auf der Homepage vom Magnum Photos zitiert. (Fotografien können bewegen, und Filme können still sein. Beide treffen sich in der Klanglandschaft.") Fotografie und Film sind für ihn Medien, die im Ansatz für einen Künstler ganz verschieden zu denken sind. Auch die O-Töne, die Chang von seinen Reisen mitnimmt, erzählen für sich bereits Geschichten. 2018 arbeitet der Bildkünstler unter anderem für das taiwanesische Fernsehen an einer Dokumentation über die Syrerin Azma, die 2015 nach Österreich geklommen ist und mit ihrem syrischen Mann in Köflach Asyl gefunden hat.
52 Bordkarten in einem Jahr
Die meiste Zeit des Jahres ist Chien-Chi Chang unterwegs. Der Fotograf sammelt die Bordkarten seiner Flüge, auf 52 Boardingpässe ist er 2017 gekommen. Viel Zeit verbringt Chang in Taiwan, wo seine Eltern leben. Und so oft es geht, kommt er nach Graz, wo seine beiden Kinder daheim sind. Chien-Chi Chang war einige Jahre mit der Grazer Fotografin Anna Lisa Kiesel verheiratet, die er in New York kennengelernt hatte. Auch wenn die Ehe nicht gehalten hat, seine Kinder sind ein Fixpunkt in seinem Leben. „Nach 25 Jahren als Fotograf habe ich nicht mehr das unbedingte Bedürfnis, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein", schreibt Chang am Ende eines Videos über sein Vatersein. Er, der ständig auf Achse ist - sein jüngster Fotoband heißt „Jet Lag", 2015 bei Hatje & Cantz in Deutschland erschienen -, trachtet danach, so oft wie möglich bei den Kindern zu sein.
In seiner Grazer Wohnung hat er sich einen Videoschnittplatz eingerichtet. In den Wochen, die er hier verbringt, arbeitet er hauptsächlich an seinen Filmen. Zur österreichischen Fotoszene hat er keinen Kontakt. Dafür gerät er ins Schwärmen, wenn man ihn auf Inge Morath anspricht: „Inge war so eine nette Frau! Ich vermisse sie sehr," sagt Chang über die aus Graz stammende, 2002 verstorbene Grand Dame der österreichischen Fotografie, die in den 1950er-Jahren zu Magnum kam.
Bilder von Chien Chi-Chang bei Magnum Photos >>
Werner Schandor
Stand: Februar 2018