Immer in Bewegung (*)
Am besten beschreibt man Karl Wratschko als künstlerischen Generalisten, für den die Vielfalt an Interessen keine Grenzen kennt.
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Wenn man Karl Wratschko, Jahrgang 1978, trifft und mit ihm plaudert, bekommt man das Gefühl von einem künstlerischen Menschen, der mit einer ansteckenden Neugier, einer beeindruckenden Lebensfreude und einer faszinierenden Achtsamkeit über seine vielen kuratorischen und künstlerischen Projekte erzählt. Schon seine Ausbildung nach der Matura offenbart spannende Momente: Vom Land kommend, aufgewachsen in Teufenbach in der Obersteiermark, stürzte er sich in Wien zuerst ins Studium der Betriebswirtschaftslehre, wobei ihn der sozialwissenschaftliche Teil besonders interessierte. Daher begann er ein Jahr später, 1998, zusätzlich mit dem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften und erinnert sich: „Damals war es einfacher, parallel zwei Studienfächer zu studieren, und es war wunderschön." Schließlich keimte der Wunsch auf, etwas mit Kultur zu machen, und Karl Wratschko ergänzt: „Mit Film kenne ich mich am besten aus", aber es zogen ihn die Freiräume an, die es erlauben, zwischen verschiedenen künstlerischen Genres (Musik, Theater, Literatur, Tanz, Performance, Bildende Kunst ...) „herumzuswitchen". Im zweiten Studienabschnitt spezialisierte er sich auf Film und begann, filmtheoretisch und kuratorisch zu arbeiten. „Ich kam damals noch nicht auf die Idee, selbst als Kunstschaffender tätig zu sein", sagt Karl Wratschko rückblickend. In seinen theoretischen Überlegungen zerlegte er mittels Bestandsaufnahmen Kunstwerke bis ins kleinste Detail und verfolgte seine Analyse mit dem interpretatorischen Anspruch: „Alles ist überlegt und nichts dem Zufall überlassen". Zur Erklärung: Karl Wratschko war fast zehn Jahre lang Mitarbeiter des Filmarchiv Austria in Wien und dort als Kurator und Kustos für den Bereich Stumm- und Experimentalfilm sowie für den Musikbereich tätig.
Und doch ist es in der künstlerischen Arbeit so - wie er auch selbst entdeckte -, dass vieles nach einer intuitiven Zufälligkeit passiert und deshalb einen Raum für Zufälle offenlässt. Vor vier Jahren hat sich Wratschko selbst auf einen künstlerischen Weg begeben, der ihn weg von der reinen Präsentations- und Vermittlungsebene führte: „Das Künstlerische ist aber auch sehr hilfreich für das kuratorische Arbeiten", sinniert er. Diese Kombination spiegelt für ihn den Zeitgeist wider, in dem Kunstschaffen und Kuratieren immer mehr zusammenwachsen. An seinen Sprung vom Kurator in die Kunstproduktion kann er sich lebhaft erinnern: Es war eine Hörbild-Feature-Sendung für den Radiosender Ö1, „Angefangen mit Gott", in der er gemeinsam mit dem Klangkünstler Peter Kutin aus dem Tagebuch des Thomas Bergner von der Isonzo-Front 1915 erzählt und diese Sendung damit in den Kontext der Zeitspanne „1914-2014" einreiht. Gleichzeitig entstand auch sein erster Experimentalfilm „Monte Nero", der sich ebenfalls diesem Thema widmete und parallel zum Hörbild entstand. In den darauffolgenden Jahren folgten mehrere Experimentalfilme, die sich vor allem mit dem Medienwandel „analog-digital" auseinandersetzen. Aktuell arbeitet Karl Wratschko gemeinsam mit Matija Schellander an einem Radio-Feature mit dem Arbeitstitel „Tonhof", in dem es um das historisch gewachsene Kulturzentrum in Maria Saal in Kärnten geht, als Co-Kurator (mit Maria Froihofer und David Reumüller) an der Ausstellung „POP 1900-2000. Populäre Musik in der Steiermark" (Arbeitstitel) für das Universalmuseum Joanneum und gemeinsam mit Michael Bachhofer an einer Installation für das Klanglicht-Festival. „Ich arbeite sehr gerne mit Leuten zusammen", bekräftigt Karl Wratschko, der seine Filmprojekte jedoch allein verantwortet.
Er möchte nicht von einem einzigen künstlerischen Genre, einer Ausdrucksweise abhängig sein. Vielmehr sieht er in den Wechselmöglichkeiten der Genres nicht nur eine schöne Vielfalt, sondern auch eine immense Freiheit. So ist auch seine Persönlichkeit, die es liebt, in die Organisation und Umsetzung vieler Projekte gleichzeitig involviert zu ein. Karl Wratschko schloss im Jahr 2004 seine beiden Studien erfolgreich ab. Immer offen für Neues und immer in Bewegung ging er 2014/15 im Rahmen einer Bildungskarenz nach Bangkok, wo er das Masterstudium „Interkulturelle Germanistik/Deutsch als Fremdsprache" an der Ramkhamhaeng-Universität sowie am Goethe-Institut in Bangkok abschloss.
Karl Wratschko bewegt sich gerne zwischen den beiden Welten des Kuratierens und der Kunstproduktion. „Ich suche mir immer eine Nische für meine Arbeiten." Die Welt des Films ist seit seinem 21. Lebensjahr zu seinem Spezialgebiet geworden, jene Kunstform, durch deren Geschichte und Formen er sich durchgeackert hat: „Ich habe mich binnen kürzester Zeit durch Tausende von Filmen durchgearbeitet", erzählt er begeistert. Durch die Aneignung von Wissen über Aufführungspraxis, Materialität, Bildsprache und andere filmische Ausdrucksmittel wuchs sein Respekt für die Filmschaffenden enorm, was ihn lange davon abhielt, selbst Filme zu drehen. Das hat sich erst in den letzten Jahren geändert. Filmideen hat er genug, inspiriert fühlt er sich vor allem von der Filmgeschichte, aber auch von gesellschaftlichen und politischen Themen. „Ausgehend von Archivarbeit können tolle künstlerische Projekte entstehen", weiß Karl Wratschko durch seine umfangreichen Recherchetätigkeiten. Seit 2016 ist er Kurator beim Filmfestival Cinema Ritrovato in Bologna, dem größten Filmfestival für Filmgeschichte und Archivfilm.
Gemeinsam mit Lisbeth Kovačič und Peter Kutin hat Karl Wratschko im Rahmen des KUNSTRAUM STEIERMARK-Stipendiums ein Arbeitsatelier in St. Andrä im Sausal, wo er in Kooperation mit seinen Atelier-PartnerInnen 2017 die „1. Sausaler Kunstbiennale" auf die Beine stellte: Im Rahmen einer öffentlichen Kunstwanderung quer durch das steirische Weinland präsentierten 20 KünstlerInnen aus Slowenien, Ungarn, Italien, Serbien und Österreich ihre zuvor vor Ort erarbeiten Projekte in den unterschiedlichen Formaten wie Performances, Installationen, Klangkunst und künstlerischen Interventionen.
Für Graz war Karl Wratschko Herausgeber der beiden DVDs „Österreich in historischen Filmdokumenten. Graz 1914-1933" sowie „Österreich in historischen Filmdokumenten. Graz 1934-1945", den zweiten Teil gab er gemeinsam mit Maria Froihofer heraus. 2018 gestaltete er mit Michael Bachhofer für das Klanglicht-Festival „Ich bin viele Gesichter" eine filmische Installation im Roseggergarten in Graz, in der Texte des steirischen Dichters von in Graz tätigen SchauspielerInnen gesprochen und auf das Gesicht seiner Statue projiziert wurden und so den Heimatdichter wahrhaft lebendig werden ließ.
Das Film-Auslandsstipendium des Landes Steiermark bringt Karl Wratschko im Herbst 2018 nach Tirana, Albanien, wo er die Filmarchive von Albanien, Montenegro und dem Kosovo besucht, um sein Work-in-Progress-Filmprojekt „Traversing the Balkans", das er gemeinsam mit Rdeča Raketa (Maja Osojnik, Matija Schellander) umsetzt, weiterzuentwickeln: „Bei Traversing the Balkans handelt es sich um ein historisches Roadmovie, welches auf der Leinwand (und auch in der Realität) eine Reise von Wien nach Istanbul unternimmt. Ein Pool von Stummfilmen aus Österreich wird in Kooperation mit den jeweiligen Filmarchiven aus Südosteuropa um Filme aus ihren Beständen erweitert, vor Ort jeweils neu zusammengestellt und zusammen mit experimenteller Live-Musik und Sprache aufgeführt. Im Mittelpunkt steht eine kritische Auseinandersetzung mit der Konstruktion des ‚Balkan‘." Bisher wurde dieses Projekt in Slowenien (Maribor, Kranj, Ljubljana), Kroatien (Zagreb, Vukovar), Serbien (Belgrad) und Mazedonien (Skopje) gezeigt sowie in Österreich beim „Crossing Europe Festival" in Linz und im Metrokino in Wien. Das ist nur eines von mehreren Projekten vor Ort - und es wäre nicht Karl Wratschko, wenn er in Tirana nur ein Projekt verfolgen würde. „Ich sichte in den Archiven auch die Filmbestände zum frühen Kino sowie zum experimentellen Filmschaffen. Historische Filme aus dem Westbalkan werden nur selten bis gar nicht bei Festivals gezeigt. Das möchte ich in meiner Aufgabe als international tätiger Filmkurator ändern." Und als Filmemacher dreht er in Albanien auch noch einen experimentellen Kurzfilm zum Themenkomplex „Mare Liberum".
Petra Sieder-Grabner
September 2018
*Update 2024: Orientalismus als Mutter der Reproduktionen
Karl Wratschko wird im Oktober und November 2024 im Rahmen eines Atelier-Auslandsstipendiums mehrere Wochen in Kairo verbringen. Sein künstlerisches Vorhaben beschäftigt sich mit dem Einfluss des westlichen Blicks auf Ägypten, insbesondere im Hinblick auf den Orientalismus, der in den 1920er Jahren einen Höhepunkt erreichte.
Ausgelöst durch die Entdeckung des Grabes von Tutanchamun im Jahr 1922, erlebte der Westen vor 100 Jahren eine anhaltende Ägypten-Faszination. Dabei richtete sich das Interesse vor allem auf das antike Ägypten, und zahlreiche Artefakte wurden in westliche Museen gebracht. Dies ging einher mit einer zunehmenden Produktion von Objekten und Bildern, die gezielt für den westlichen Markt geschaffen wurden, um exotische Vorstellungen und Klischees zu bedienen.
Vor diesem Hintergrund möchte Karl Wratschko eine Ausstellung konzipieren, in der die durch den Orientalismus geprägten Darstellungen untersucht werden. Dabei liegt der Fokus auf historischen Postkarten, Fotografien und Kunsthandwerken, die speziell für den Tourismus produziert wurden. Diese Artefakte, die sowohl in Ägypten selbst als auch in Europa zu finden sind, spiegeln eine westliche Vorstellung von Ägypten wider, die das Land auf exotische und romantisierte Stereotypen reduziert. Durch diese verzerrten Reproduktionen wurde der westliche Blick zur dominanten Perspektive, die die lokale Kultur in ihrer Eigenwahrnehmung nachhaltig beeinflusste.
Aufmerksam wurde Wratschko auf die Thematik, als er während eines Aufenthalts in Paris eine Ausstellung algerischer Künstlerinnen besuchte, die den orientalistischen Stil in ihren Arbeiten aufgreifen. Diese bewusste Reproduktion verdeutlichte ihm, wie tief der westliche Blick in die Kunst der Region eingedrungen ist und das Selbstbild der Kulturen beeinflusst hat. Traditionelles Kunsthandwerk und Malerei wurden oft zur Souvenirproduktion degradiert, um die westlichen Erwartungen zu erfüllen, anstatt als authentische Ausdrucksformen der nordafrikanischen Kultur(en) respektiert zu werden.
Im Zentrum von Wratschkos Projekt steht daher die kritische Auseinandersetzung mit der Frage, wie orientalistische Darstellungen die ägyptische Kunst und das Handwerk beeinflusst haben. Im Oktober und November wird der Künstler nach Ägypten reisen, um sich vor Ort mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Auf Flohmärkten in Kairo und anderen Städten wird er nach historischen Objekten suchen, um die Geschichte dieser touristischen Reproduktionen weiter zu erforschen. Gleichzeitig beschäftigt ihn die Frage, wie heimische Traditionen und Kunst aus einer externen, westlichen Perspektive dokumentiert und wahrgenommen werden. Ein weiteres Ziel des Projekts ist es, den Einfluss des Orientalismus auf die zeitgenössische Kunst in Nordafrika zu untersuchen.
Die Richtung, in die das Projekt letztlich geht, ist noch offen. Ägypten dient als Ausgangspunkt. Die in der Folge geplante Ausstellung wird diese Prozesse sichtbar machen und den fortwährenden Einfluss des Orientalismus auf die ägyptische Kultur und ihre Darstellung kritisch hinterfragen.
Naima Noelle Schmidt
September 2024