Kleine Verletzungen auf Papier
Die Leichtigkeit in den Arbeiten von Iris Christine Aue lenkt den Blick oft von den Verwerfungen ab, von denen die Papierfiguren der Künstlerin erzählen.
Iris Christine Aue arbeitet an fast lebensgroßen Figuren, die sie aus Papier zusammensetzt. Die einzelnen Teile werden mit Farbstift und Aquarellfarben gemalt, ausgeschnitten und miteinander vernäht, bis das Bild eines Menschen entsteht. „Ich sehe mich als Zeichnerin", sagt die in Wien aufgewachsene Künstlerin, die an der Kunstuniversität Linz Malerei studierte. Sie hat ihr Studium 2010 abgeschlossen und sich von 2014 bis 2016 im Vorstand der IG Bildende Kunst engagiert.
Im März 2018 ist die Künstlerin mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in die Steiermark gezogen. „Es gibt hier eine rege Kunstszene, und es ist sehr nett, wie offen man in Graz aufgenommen wird, wenn man zu Vernissagen geht", meint sie. Jetzt steht sie in ihrem neuen Atelier im Obergeschoß der Familienwohnung in Graz-Andritz. Am Boden zeugt ein Tablett, auf dem frisch benutzte Farbtuben liegen, von ihrer Arbeit. Am Schreibtisch befindet sich ein Laptop, Papiere, Skizzen und ein Nest aus einer Strauchflechte: Neben Menschen gilt Pflanzen das verstärkte Interesse der Zeichnerin. An die rückseitige Wand des Ateliers ist ein jüngst fertiggestelltes Werk gepinnt („I don't want to talk"), auf der Längswand hängen eine Papierfigur, der noch der Kopf fehlt, sowie eine Bleistift-Skizze. Darauf zu sehen: ein paar Füße mit in die Höhe ragenden Unterschenkeln in Lebensgröße, eingeteilt in verschiedene Sektoren, die Zehen stoßen an eine Linie, die im fertigen Werk rot ausfallen wird.
Wenn der Entwurf Teil für Teil auf Papier übertragen wird, arbeitet Aue am liebsten mit Büttenpapieren. „Man kann es biegen, brechen, falten - es wird nicht hin", weiß die Künstlerin. Ihre meist großformatigen Arbeiten gehen aus kleinformatigen Skizzen („meinem Notizatlas") hervor. In ihren Werken überschreitet Aue fast unmerklich mehrere Grenzen: Sie zeichnet und illustriert die Einzelteile für ihre Figuren auf Papier, fügt sie zusammen wie zu einer Collage und platziert sie frei in Ausstellungsräumen, wo sie wie Skulpturen umkreist werden können: zweidimensionale Skulpturen im Raum. Dazu kommt, dass Aue die Papierteile, aus denen die Figuren bestehen, nicht klebt, sondern vernäht. Dadurch bringt sie auch methodisch eine zusätzliche Ebene ins Spiel.
„Viele fragen mich, ob das Vernähen ein feministisches Statement ist, aber das kann ich klar verneinen", sagt Aue. „Das Nähen hat sich einfach so ergeben, weil es die Papierteile besser verbindet, als wenn man sie kleben würde." Aber das ist nicht der einzige Vorteil: Auf der Vorderseite der Arbeiten verstärken die feinen Nähte das grafische Element von Aues Figuren. Und auf der oft nicht bemalten Rückseite - Iris Christine Aue dreht einen in Arbeit befindlichen Kopf um - sind die Nähte weniger klar und sauber, stattdessen hängen kleine Fadenreste herunter: Der Kopf wirkt wie vernarbt. „Es schaut aus wie kleine Verletzungen. Und das interessiert mich inhaltlich", führt die Künstlerin aus.
Aus dem Lot geratene Macht-Balance
Das Thema, das Aue seit Jahren beschäftigt, sind Machtverhältnisse in Beziehungen. Es geht ihr nicht um die offensichtlichen Dominanzen oder Unterwürfigkeiten, sondern um die kaum merklichen Verletzungen, um die feinen Stiche, die sich Menschen zufügen können. Die aus dem Lot geratene Macht-Balance in Beziehungen gießt Aue in ihren Installationen in deutliche Bilder: Die Arbeit „so, wie du uns haben willst" zeigt zusammengesunkene Papierfiguren auf einem roten Teppich in einer diametralen Anordnung. Bei „in meinen Garten" werden ein Mann und eine Frau jeweils von einem kniehohen Zaun eng eingehegt; und „mit uns zwei wärs so schön" zeigt eine junge Frau, die einen spatzengroßen Vogel in ihren zur Höhle geformten Händen hält; vor ihr liegen einige zerquetschte Spatzen auf dem Boden.
Interessanterweise würden ihre Arbeiten in Ausstellungen oft als „schön" wahrgenommen, erzählt Aue. Die Fragilität und Leichtigkeit der Papierfiguren scheinen von den Verwerfungen und seelischen Verletzungen abzulenken, von denen die Werke eigentlich erzählen. Ähnlich wie die in jüngerer Zeit entstandenen Arbeiten: Zerschnittene Zeichnungen (Serie, „o. T.") von Gesichtern und Pflanzen (Serie „vernarbte Zeichnungen"), die Aue in quasi zersplitterter Form neu zusammengefügt hat.
Skandinavische Einflüsse
Wesentliche Einflüsse hat Iris Aue am Ende ihres Studiums bei einem mehrmonatigen Norwegen-Aufenthalt aus Oslo nach Österreich mitgenommen. „Die skandinavische Kunst ist ein eigener Kosmos", resümiert die Künstlerin. „Das Galerienwesen ist nicht so ausgeprägt wie bei uns, dafür spielen großzügige öffentliche Förderungen eine ungleich größere Rolle. Ästhetisch ist die Formensprache reduzierter, und in der Szene sind Leute dominant, die bei uns kaum oder gar nicht bekannt sind." Eine Ausnahme ist vielleicht Jockum Nordström, dessen Arbeiten eine große Faszination auf Iris Christine Aue ausüben - wie auch jene der amerikanischen Künstlerin Kiki Smith.
Noch bis Jahresende 2018 sind Werke von Iris Aue im Rahmen der Ausstellung „Austrian Contemporary" im EU-Parlament in Brüssel zu sehen. 2019 steht eine Personale mit neuen Arbeiten in der Galerie der Stadt Vöcklabruch im Lebzelterhaus an. Die Grazer Kunstszene verfolgt die Wahl-Grazerin mit großem Interesse.
http://www.iris-christine-aue.com
Werner Schandor
Stand: November 2018