Dialog zwischen Haut und Häusern
Urbane Räume, die menschliche Körperhülle sowie Geschlechterrollen sind die großen Themen, die Nicole Pruckermayr in ihren künstlerischen, oft kollaborativen Arbeiten umkreist.
Das Wilde im Geregelten und die Distanz im Nächstliegenden - Nicole Pruckermayr wählt oft dialektische Zugänge zu den Themen, die sie künstlerisch-konzeptionell behandelt. 1995 kam die in Wels Geborene zum Studieren nach Graz. Biologie war nicht so spannend wie erhofft, also wechselte die HTL-Absolventin zur Architektur. Am Institut für Zeitgenössische Kunst an der TU Graz, wo sie später als Wissenschaftliche Assistentin tätig war, erhielt sie wichtige Impulse. Ihre künstlerische Verortung aber fand sie in der Netzkultur-Initiative mur.at und hier vor allem im Austausch und in der langjährigen Zusammenarbeit mit der Medienkünstlerin Reni Hofmüller.
Nicole Pruckermayr hat seit 1999 zahlreiche Projekte am Grat von Kunst und Kulturwissenschaft realisiert. Drei Beispiele aus einer sehr langen Liste: 2008 hat sie mit TU-Studierenden die Grenzräume in Bad Radkersburg erkundet und künstlerisch modifiziert; 2012 erforschte sie gemeinsam mit Kunstschaffenden und Expertinnen und Experten aus Architektur, Kultur- und Naturwissenschaften Grazer Gstettn als „Lücken im urbanen Raum". Dazu wurden Inputs von TU-Studierenden und Schülerinnen der HLW Schrödinger einbezogen. Und von 2016 bis 2018 widmete sie sich als Kuratorin und Organisatorin von „ COMRADE CONRADE. Demokratie und Frieden auf der Straße" der Conrad-von-Hötzendorf-Straße, die vom Liebenauer Stadion bis knapp vor den Jakominiplatz reicht und den meisten Menschen eher als Transitzone denn als Stadtquartier ein Begriff ist.
Umfassendes Stadtforschungsprojekt
„Mich interessiert seit jeher der Raum zwischen den Gebäuden viel mehr als die Architektur der Gebäude", erklärt die Künstlerin, die fasziniert ist von der Vielschichtigkeit öffentlicher Räume und ihren unterschiedlichen Nutzungen. Diese vielfältigen Aspekte wurden bei COMRADE CONRADE vertieft. So gab es 2017 und 2018 Stadtviertel-Rundgänge unter anderem zu den Themen Demokratie, jüdisches Leben, NS-Propaganda und Arbeit. Die Straße wurde städteplanerisch untersucht und ihre Bedeutungsfelder mit temporären Kunstwerken erhellt; eine Tagung und verschiedene Aktionen beschäftigten sich mit Friedensforschung, Geschlechterrollen im öffentlichen Raum, Privatisierung von Räumen und vielen weiteren städteplanerischen, soziologischen und kulturellen Aspekten. „Das Projekt hat unter anderem gezeigt, dass es das direkte Gespräch mit Menschen braucht, um Bewusstsein zu wecken", resümiert Pruckermayr. Im konkreten Fall Bewusstsein für die problematische Benennung der Conrad-von-Hötzendorf-Straße nach einem Kriegstreiber der Donaumonarchie; und umgekehrt: Bewusstsein der Projektbeteiligten, dass viele Leute, die sich regelmäßig in der Hötzendorfstraße aufhalten, wenig Bezug zu dieser Straße als Lebensraum haben.
Haut, Körper, Dialog
Den Gegenpol zu ihren zahlreichen Projekten im öffentlichen Raum bildet Pruckermayrs konstante Beschäftigung mit etwas sehr Privatem: der menschlichen Haut. „Haut als Distanzerfahrung" lautet der Titel ihrer künstlerisch-kulturwissenschaftlichen Dissertation, die Nicole Pruckermayr 2014 fertigstellte. Ihr ging eine langjährige Auseinandersetzung mit dem Organ voraus, das zwischen uns und der Umwelt steht. 2009 etwa hat die Künstlerin in Berlin ihr Projekt „ Kollektives Frühlingsschinden. HAUTEN" umgesetzt: Vorbeikommende konnten sich in einem temporären Atelier einen Latexabdruck einer beliebigen Körperpartie abnehmen lassen; die Latexteile trockneten im Atelier, wurden ausgestellt und schließlich im Stadtraum deponiert, wo sie zerfielen. Die Interaktion mit Rezipientinnen und Rezipienten stand auch beim „Körperarchiv" (2016) im Mittelpunkt: Pruckermayr wertete dafür zwölf Tiefeninterviews mit Menschen aus, die über ihren bevorzugten Körperteil sprachen. Passagen aus den Interviews wurden auf Post-its notiert, die das Gewölbe des Graz Museums mit einer metaphorischen Haut überzogen.
In anderen Projekten fanden beide Sphären, das Private der Haut und das Öffentliche urbaner Räume, zusammen, z. B. als Pruckermayr 2009 in der Performance „ Verletzung ohne Namen" ihren vollständig einbandagierten Körper im öffentlichen Raum vor dem AMS in Graz ablegen ließ. „Dabei ging es mir auch sehr um die städtebaulich-soziale Situation zwischen einem Bordell, dem AMS, einer Pfandleihanstalt und dem Arbeiterstrich", führt die Künstlerin aus. 2018 variierte sie die Aktion im Rahmen von COMRADE CONRADE beim Bertha-von-Suttner-Platz: Dieser liegt - ohne Straßenschild und adressenlos - am Ende der Hötzendorfstraße, als wär's eine Metapher auf die Geschlechterverhältnisse. Auch hier war die Ortswahl bedeutsam, denn bei Pruckermayrs Körper-Arbeiten schwingt meist ein Thema mit, das sich als dritte wichtige Konstante durch ihr Werk zieht: die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Geschlechterrollen.
Der Kreis schließt sich
Seit 2014 - Pruckermayr hat inzwischen einen Lehrgang für Forstwirtschaft absolviert - bereichert die Ökologie den künstlerischen Kosmos der ehemaligen Greenpeace-Aktivistin. Im Herbst 2019 wird sie sich im Kunsthaus Mürz in Mürzzuschlag dem rasanten Verbrauch der Ressource Boden widmen. Wieder soll das Thema unter Einbeziehung möglichst vieler Betroffener disziplinübergreifend aufgearbeitet werden. Im Hinblick auf den angeschlagenen ökologischen Zustand der Erde meint die Künstlerin, die damit thematisch den Kreis zu ihrem anfänglichen Biologiestudium schließt: „Wir haben keine Zeit mehr, um nur in einzelnen Disziplinen zu denken. Als Gesellschaft müssen wir wieder ein bisschen mehr über den Tellerrand schauen und darauf achten, wo die anderen sind, und wie wir gemeinsam weiterkommen können." Aber auch vor Konflikten mit Menschen, die den Klimawandel und die Ausbeutung der Natur leugnen, wird sie nicht ausweichen, denn: „Nur durch das Austragen von Konflikten entwickelt man sich weiter."
https://umlaeute.mur.at/CV/nicole-pruckermayr/
Werner Schandor
Stand: Februar 2019