„Mit spitzen Fingern“
Sarah Kuratles literarische Überschreitungen der Wirklichkeit
„Mit Sarah Kuratle wurde den manuskripten das Glück zuteil, eine neue, tatsächlich einzigartige Stimme für die österreichische Literatur entdeckt zu haben." So beginnt die Jurybegründung zum manuskripte-Förderpreis der Stadt Graz, die 2016 verfasst wurde. Was damals gewagt geklungen haben mag, gilt mittlerweile als wahrer Satz. Wobei: Wie riesengroß das Glück tatsächlich ist, das der österreichischen Literatur mit der Romanschriftstellerin und Lyrikerin Sarah Kuratle zuteilwurde, wird sich wohl erst in einigen Jahren ermessen lassen!
Fakt ist: Sarah Kuratle ist ein Rätsel. Und zwar kein kleines. Schon auf die Frage nach ihrem Zuhause gibt es keine eindeutige Antwort. Klar ist nur, dass es sich um keinen einzelnen, geographisch verortbaren Platz handelt, wie etwa Bad Ischl - selbst wenn sie dort, vertraut man ihrer Homepage, „am 23. Mai 1989" geboren ist. Die Homepage weiter: „Aufgewachsen dies- und jenseits der österreichisch-schweizerischen Grenze, lebt in Wien. Studium der Germanistik und Philosophie an der Universität Graz".
Als wir uns im Café Daniel neben dem Grazer Hauptbahnhof treffen, präzisiert die Autorin: „Österreich ist das größere Daheim, ein Bänkchen am Waldrand, die kleinere Familie. Die Schweiz ist das kleinere Daheim, die größere Familie, ein Häuschen oberhalb vom Fluss."
Wo aber liegt ihre literarische Herkunft? „Meine Vorbilder", berichtet sie, „sind eher einzelne Werke oder Passagen in Werken. Um ein paar wenige zu nennen, mit Dramatik, sinnlichem Spiel, Details, Märchen und Sentiment: Pelléas und Mélisande von Maurice Maeterlinck, Mein Herz von Else Lasker-Schüler, die Haibun von Matsuo Bashô, was brauchst du von Friederike Mayröcker, Gram von Anton Tschechow und Der goldne Topf von E. T. A. Hoffmann."
Ich bin dementsprechend beeindruckt: Wenn das nicht die originellste Leseliste seit der von H. C. Artmann ist! Gleichzeitig wird mir jetzt auch klarer, warum die Texte dieser Schriftstellerin so einzigartig klingen, wie sie eben klingen ...
Bei unserer ersten Begegnung, 2015 anlässlich einer manuskripte-Präsentation, waren es freilich andere Schreibende, die uns zusammenführten. Sie war begeistert von der eben zu Ende gegangenen Lesung Ingeborg Horns. Ich interessierte mich für die Seminararbeit über Walter Benjamin, an der sie arbeitete. Ob sie auch literarisch schreibe, fragte ich. Sie schien zu verneinen, deshalb beglückwünschte ich sie: „Geschrieben wird eh genug!" Ach, Andreas ... Was du gesagt hast, mag zwar stimmen, aber: Wirklich gut geschrieben wird doch immer viel zu wenig!
Glücklicherweise ließ sich Sarah nicht so schnell entmutigen. Ein paar Monate später bot sie den manuskripten ein Prosastück an, von dem Alfred Kolleritsch und ich sofort überzeugt waren. Imponierenderweise handelte es sich nicht nur um ein einzelnes Prosastück, sondern gleich um den Anfang einer Langerzählung. Was uns jedoch am meisten beeindruckte: Der schon damals unverwechselbare Kuratle-Sound, der einen märchen-, oft sogar liedhaften Ton mit Zeilen aus Pop, Philosophie und Bildertiteln zu verknüpfen weiß, ohne dabei je ins Hermetische abzudriften.
„Ich fand von der Lyrik zur Prosa", erklärt die Autorin heute. „Manchmal versuche ich meine Zeilen so zu lesen, als könnte ich mit ihnen ein Lied singen."
Im manuskripte-Heft 211 debütierte Kuratle schließlich mit dem ersten Kapitel von Iris, einer ebenso tragischen wie die Freuden des Lebens feiernden Dreiecksgeschichte. In der nächsten Ausgabe und im Wiener Literaturmagazin Wespennest publizierte sie Gedichte. Die gesamte Erzählung Iris erschien dann in Fortsetzungen in den manuskripten und machte aus ihr noch im Jahr ihrer ersten Veröffentlichung die logische Empfängerin unseres Förderpreises. In der Begründung schrieben Kolleritsch und ich über Kuratles erste Arbeit: „Das dichte, vielstimmige Netz aus Anspielungen und Zitaten (aus Literatur, bildender Kunst und Popmusik) erhebt die Desorientierung zum adäquaten Erkenntnismittel und lässt die Unterschiede zwischen (realer) Kunst und (künstlicher) Realität, Aussage und Frage, Tiefsinn und Sinnlichkeit verschwimmen. So wird die Liebesgeschichte, die Kuratle erzählt, weit über ihre Protagonisten hinausweisend zu einer Liebeserklärung: an die Literatur, die Bilder, die Musik, das Leben, ja, die Liebe selbst."
2017 zog die Germanistin dann nach Wien, begann ein „normales" Berufsleben, arbeitete aber vor Dienstbeginn und manchmal nach Feierabend weiter unbeirrt an ihrer Dichtung - „mein Schreiben", sagt sie, „ist zuallererst Freiraum zwischendurch". Und ihre Hingabe wurde weiter belohnt: Für Greta und Jannis, ihr neues Romanmanuskript, erhielt Kuratle Anfang 2019 das Adalbert-Stifter-Stipendium des Landes Oberösterreich. Für 2020 wurde sie zum Arbeitsaufenthalt in die Fundaziun Nairs in der Schweiz eingeladen. Im Herbst 2019 sprach ihr die Jury um Barbara Frischmuth, Alfred Kolleritsch und Reinhard P. Gruber den von Hans Roth gesponserten rotahorn-Förderpreis zu. Und kurz darauf wurde sie mit Greta und Jannis auch noch zum Open Mike-Festival in Berlin eingeladen, der renommiertesten Lesebühne für junge Schreibende ohne Buchveröffentlichung im deutschsprachigen Raum.
So erfreulich all diese Dinge auch sein mögen, Sarah Kuratle scheint anderes, Wesentlicheres, doch viel wichtiger zu sein: „An Literatur", sagt Sarah Kuratle, „fasziniert mich als Leserin wie als Autorin, dass sie uns mit spitzen Fingern zurücklassen kann. Damit meine ich: sachte mit Feinheiten, feinfühliger und flexibler, was die Stelle angeht, wohin wir unsere Finger, dann vielleicht unsere Hände legen, wie lange wir sie dort lassen. An literarischen Texten, ob ich sie lese oder schreibe, reizt mich fast im selben Maße, dass, wenn überhaupt, die Phantasie ihre Grenzen steckt, dass sie uns die Wirklichkeit überschreiten lassen."
Schön gesagt ... Weiter so, liebe Sarah!
Andreas Unterweger
Stand: Oktober 2019