Hundert Jahre Einsamkeit
Die gebürtige Grazerin Dorit Chrysler hat von New York aus international Karriere gemacht. Mit dem wohl wunderlichsten Musikinstrument aller Zeiten – dem Theremin. Heuer feiert das Instrument, das nie berührt wird, seinen hundertjährigen Geburtstag.
Schon seit einigen Wochen sorgt die COVID-19-Pandemie weltweit für einen Ausnahmezustand. Als mehr und mehr Länder beginnen, ihre Grenzen zu schließen, befindet sich Dorit Chrysler in der Schweiz. Im Forschungszentrum CERN, wo man mithilfe riesiger Teilchenbeschleuniger dem Ursprung des Universums auf die Schliche kommen will, finden die Dreharbeiten zu einem Musikvideo statt. Es soll eine Hommage an das Theremin zu seinem hundertjährigen Geburtstag werden - also an jenes Instrument, das die gebürtige Grazerin so gut spielt wie sonst kaum jemand.
„Ich hatte extrem großes Glück", erzählt sie in einem Videotelefonat, „denn nach dem Dreh des Videos wurde mein Flug nach New York gecancelt und der Zugverkehr nach Österreich eingestellt. Ich konnte gerade noch einen letzten Flug nach Wien bekommen und veranlassen, dass mein zehnjähriger Sohn aus den USA zu mir nach Graz gebracht wird, wo ich mich derzeit aufhalte." Vor dreißig Jahren ist sie nach New York ausgewandert, die Stadt war über viele Jahre ihr Lebensmittelpunkt, doch ein Basislager in Graz hat sie immer aufrechterhalten. „Jetzt bin ich heilfroh darüber, hier zu sein - eine Stadt wie New York ist derzeit natürlich unkontrollierbar."
Königin des Theremins
Dorit Chrysler (*1966) hat in Wien Musikwissenschaften studiert, sie ist Musikerin und Sängerin, Produzentin und (Film-)Komponistin. Bekannt ist sie vor allem für ihr Thereminspiel, von der englischsprachigen Presse wurde sie schon als „Theremin Queen" oder „Theremin Goddess" bezeichnet. Auf ihrer Homepage kann man Archivfotos der letzten Jahrzehnte bewundern. Sie zeigen Chrysler im Beisein von Größen der internationalen Musik- und Kunstszene, mit denen sie gemeinsam auf der Bühne gestanden ist oder zusammengearbeitet hat. Künstlerinnen und Künstler etwa, die in die Annalen des Underground-Rock eingegangen sind, wie J. Mascis (Dinosaur Jr.), Gibby Haynes (Butthole Surfers) oder Lydia Lunch. Andere haben die Pop-Avantgarde nachhaltig geprägt, etwa Tony Conrad oder Hans-Joachim Roedelius (Cluster). Und dann gibt es noch eine lange Liste an künstlerischen Weggefährten, die hier nicht abgebildet sind: Tocotronic, Elliot Sharp, Anders Trentemøller, um nur einige zu nennen. Zudem hat Dorit Chrysler Einzug ins New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) gehalten - die Musik zu Kurzfilmen des dänischen Künstler Jesper Just, die sich in der Sammlung des Museums befinden, stammt von ihr.
Viele diese Kollaborationen haben sich nicht zuletzt deshalb ergeben, weil Chrysler ein Handwerk beherrscht, das freilich mehr erfordert als „massaging thin air", wie die Technik des Thereminspielens einmal liebevoll-despektierlich umschrieben wurde. Hat man diese Technik im Griff, kann man nicht nur an der Seite namhafter Künstlerpersönlichkeiten reüssieren, sondern wie Chrysler auch eine Solokarriere verfolgen, Pop-Alben veröffentlichen, in denen der Song im Vordergrund steht („Best of", 2004 / „Sea of Neglicence", 2011) oder die Musik für eine Fernsehserie komponieren: „M - Ein Stadt sucht einen Mörder" unter der Regie von David Schalko wurde 2019 auf der Berlinale präsentiert. „Diese fünf Stunden Musik waren eine meiner größten kreativen Herausforderungen bislang", erinnert sie sich. Und es lassen sich Einrichtungen wie The NY Theremin Society oder die KidCoolThereminSchool ins Leben rufen, die das Theremin ein Stück weit in die gesellschaftliche Mitte rücken und, wie Chrysler sagt, „eine Bewegung schaffen" wollen.
Erstes elektronisches Instrument der Musikgeschichte
Das Instrument ist wie gemacht für die aktuellen Hygienevorschriften: Man spielt es, ohne es zu berühren. Das kleine Kästchen hat zwei Antennen: eine ragt horizontal zur Seite und schaut dabei ein wenig aus wie eine sanitäre Haltevorrichtung, die andere steht vertikal nach oben. Sie erzeugen ein elektromagnetisches Feld, wer ihm in die Quere kommt, entlockt dem Theremin Töne. Das Theremin gilt als das erste elektronische Instrument der Musikgeschichte. Es wurde 1920 vom russischen Erfinder Lew Sergejewitsch Termen, später nannte er sich Leon Theremin, in die Welt entlassen. Es wurde als stolzes Musikinstrument geschaffen, das sich dem Spieler nur widerwillig unterordnet, selbst wenn das Prinzip der Klangerzeugung als simpel erscheint. Doch nur mit gezielten Handbewegungen, die einer rätselhaften Dramaturgie folgen, lassen sich Höhe und Lautstärke der Töne so modulieren, dass Musik entsteht, die nicht als Katzenjammer oder Lamento aus dem Geisterreich zu beschreiben ist. „Es dauert einige Jahre, bis man das Instrument einigermaßen beherrscht, es weist einen immer wieder zurecht", erklärt Chrysler, „aber das Gleiche gilt auch für eine Violine."
Doch während die Violine ihren Stammplatz in den Orchestern dieser Welt hat, umgab das Theremin lange Zeit der Nimbus des Obskuren. Was wohl auch daran liegt, dass es zwar mit bedrohlich-ätherischem Sirren in diversen Grusel- und Sci-Fi-Filmen vor allem der 50er- und 60er-Jahre für Spannung sorgen durfte, dabei aber sich und sein Klangspektrum unter Wert verkaufte. Gerade der künstlerische Werdegang von Dorit Chrysler macht deutlich, dass die sogenannte Ätherwellengeige das Zeug dafür hat, im Mittelpunkt eines ganzen Œuvres zu stehen. Und man mag kaum glauben, wie viele Musikerinnen und Musiker der jüngeren Popgeschichte darauf zurückgegriffen haben: Pixies, Mercury Rev, The Flaming Lips und viele, viele mehr. Das künstlerische Antlitz ganzer Alben, etwa von Portishead oder Pere Ubu, wäre ohne das Theremin ein vollkommen anderes.
Stark besuchtes Jubiläumskonzert in New York
Klarerweise ist auch Dorit Chrysler von den derzeitigen COVID-19-Massnahmen betroffen: „Im Musée d'Orsay in Paris - in jenem Saal, in dem Seerosen-Gemälde von Monet ausgestellt sind -, hätte ich an zwei Tagen mehrere 20-Minuten-Konzerte gegeben. Aber ich beschwere mich nicht, so vielen blutet jetzt das Herz aufgrund der Absagen." Allerdings konnte sie noch vor dem Lockdown Schäfchen ins Trockene bringen. Auf der von ihr zusammengestellte Jubiläums-Compilation „Theremin 100" treten fünfzig Künstlerinnen und Künstler aus 18 Ländern den Beweis an, dass sich unter dem Geleitschutz dieses eigentümlichen Musikapparats mannigfaltiges musikalisches Terrain erschließen lässt - ein starkes Statement zum State of the Art des Thereminspiels. Und Anfang des Jahres hat Chrysler in der New Yorker Ambient Church einen Abend kuratiert, der ebenfalls im Zeichen des runden Theremin-Geburtstags stand: „Es kamen achthundert Besucher, die sich in der Kälte angestellt haben, die Schlange ging um den Block. Das habe ich in zwanzig Jahren, so lange ich das Theremin spiele, noch nie erlebt."
Tiz Schaffer
Stand: April 2020