Autorin mit unbestechlichem Blick
Die Prager Autorin Radka Denemarková hat für ihr Opus magnum „Stunden aus Blei“ 2022 den Literaturpreis des Landes Steiermark erhalten. Das Buch ist eine literarische Abrechnung mit der Anbiederung Europas an das totalitäre China. Entstanden ist es zu großen Teilen in Graz, wo Denemarková 2017/18 als Stadtschreiberin lebte und arbeitete.
„Im Herzen bin ich Grazerin", sagte Radka Denemarková bei der Buchpräsentation von „Stunden aus Blei" im Februar 2022 im Literaturhaus Graz. Die vielfach ausgezeichnete tschechische Schriftstellerin meint die Sympathiebekundung durchaus ernst: Seit ihrem ersten Schreibaufenthalt in Graz anno 2010 als „Writer in Residence" hat sie gute Verbindungen in die Steiermark. 2017/18 verbrachte sie ein Jahr als Stadtschreiberin hier, 2021 war sie einen Monat lang „Writer in Residence" bei der Kulturinitiative Kürbis in Wies. Über all die Jahre hinweg hat sie Beziehungen gepflegt und Freundschaften aufgebaut, sodass ihre Lesungen in der Steiermark mittlerweile Heimspielen gleichen.
Finger in politische Wunden
In Tschechien waren Radka Denemarkovás Bücher bereits mehrfach mit dem renommierten „Magnesia Literar"-Preis ausgezeichnet worden, als sie 2010 das erste Mal nach Graz kam. Im Gepäck hatte sie damals ihren druckfrisch auf Deutsch übersetzten Roman „Ein herrlicher Flecken Erde". Und schon mit diesem Buch zeigte sich, dass Denemarková ihre Aufgabe als Autorin darin sieht, den Finger in politische Wunden zu legen. Denn der Roman behandelt ein tschechisches Tabuthema: die oftmals brutale Vertreibung der Deutschen aus Böhmen nach 1945. Deutschsprachigen Böhmen ging es selbst dann an den Kragen, wenn sie keine Nazis waren, sondern zum Beispiel als Juden selbst von den Nazis verfolgt worden waren, so wie es Denemarková in ihrem Buch erzählt. „Ich bin der Meinung, dass ein Intellektueller verunsichern soll und Zeugnis ablegen über die Misere der Welt, er soll mit seiner Unabhängigkeit provozieren, gegen versteckten oder offenen Druck und Manipulation protestieren, Systeme und Mächte infrage stellen und deren Verlogenheit bezeugen," so das künstlerische Credo der Autorin, wie es in „Stunden aus Blei" formuliert ist.
Intermezzo als Literaturwissenschaftlerin
Radka Denemarková, Jahrgang 1968, studierte Germanistik und Bohemistik in Prag und arbeitete nach ihrer Promotion anno 1997 als Literaturwissenschaftlerin, bevor sie sich dem Schreiben zuwendete. In „Stunden aus Blei" wirft sie einen wenig schmeichelhaften Blick auf diese Übergangszeit: „In der empfindlichen und gierigen Zeit während ihres Studiums, der Arbeit an der Dissertation und in den ersten Berufsjahren spezialisierte sich die Schriftstellerin auf Literaturwissenschaften, es war weniger anstrengend, als selbst zu schreiben, und sie nahm an Unmengen von Konferenzen teil, [...] bei denen Gelehrte ein bestimmtes Thema umzingelten und sich in weltlicher Abgeschiedenheit mit Fachjargon ihre gegenseitige Abneigung kundtaten. [...] Was für ein Gelaber über Poesie, Romane, Kunst oder Zivilisation, natürlich alles sehr wirkungsvoll."
Sachbücher, Theaterstücke, Essays, Übersetzungen
Nach Sachbüchern über den tschechischen Regisseur Evald Schorm (1998) und die Schriftstellerin Milena Honzíková (2003) erschien 2005 Denemarkovás Romandebüt „Dreht euch nicht um" (bisher unübersetzt). Sie verfasste in der Folge weitere Theaterbücher, aber auch Theaterstücke, Drehbücher und Essays und trat zudem als Übersetzerin vom Deutschen ins Tschechische in Erscheinung, unter anderem von Herta Müllers Hauptwerk „Atemschaukel". 2006 erschien „Ein herrlicher Flecken Erde" auf Tschechisch, 2011 folgte der dritte Roman „Kobold" (er wird 2023 auf Deutsch erscheinen), 2014 „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude" (in deutscher Übersetzung 2019) und 2018 schließlich „Stunden aus Blei" (in deutscher Übersetzung 2022). Die drei bisher in Deutschland veröffentlichten Romane wurden kongenial von Eva Profousová ins Deutsche übertragen.
Wandel zu einer symbolbeladenen Sprache
Während „Ein herrlicher Flecken Erde" als eindringlicher, aber konventionell erzählter Text unter die Haut geht, änderte Denemarková für „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude" den Duktus hin zu einer stark mit (Vogel-)Symbolen aufgeladenen Sprache. Das Buch handelt vordergründig von einem Prager Frauentrio, das Vergewaltiger subtil zur Strecke bringt; in der Tiefenschicht geht es um das oftmals problematische Verhältnis der Geschlechter zueinander. Die feministische Perspektive mit einer zum Pauschalurteil neigenden Betrachtungsweise findet sich auch in „Stunden auf Blei" wieder, wo es zum Beispiel heißt: "Ein typischer Mann setzt sich nicht mit der eigenen Psyche auseinander; seine einzige Freude besteht darin, auf der gesellschaftlichen Leiter aufzusteigen." Oder: "Die Welt wird von Männern beherrscht, mit allen Attributen einer Diktatur." - Angesichts der Gender-Mainstreaming-Erfolge der letzten Jahrzehnte darf man dieses Urteil zumindest für die westliche Welt infrage stellen. Andererseits besteht das Wesen von gesellschaftskritischer Literatur oftmals darin, mit Übertreibungen und zugespitzten Behauptungen zum Kern der Dinge vorzudringen. Die feministische Kritik an der von Männern beherrschten Welt in China und Osteuropa ist allerdings nur eine Stimme im polyphonen Orchester des in jeder Hinsicht großen Romans „Stunden aus Blei".
Ermordung einer Studentin als Ausgangspunkt
Auf der Handlungsebene geht es in diesem Meisterwerk Denemarkovás um mehrere tschechische Staatsbürger - eine Schriftstellerin, einen Programmierer, einen Literaturwissenschaftler, einen Diplomaten -, die es beruflich nach China verschlägt und die alle auf ihre Weise in das turbokapitalistische System eintauchen bzw. davon aufgesogen werden. Allein die Schriftstellerin bewahrt sich einen kritischen Blick, der Parallelen vom totalitären kommunistischen Nachkriegs-Tschechien zum totalitären pseudokommunistischen Gegenwarts-China zieht. Sie freundet sich mit Dissidenten an und bemerkt die Krähen in den Bäumen, die immer dann auftauchen, wenn graue Herren mit Walnüssen in der Hand den allzu freigeistigen Menschen auf die Pelle rücken und die „Unumerziehbaren" - das sind jene, die hartnäckig von gesellschaftlicher Freiheit träumen - aus dem Weg räumen.
So wie die Figur der Schriftstellerin im Roman hat auch Radka Denemarková als Person in mehreren, zum Teil mehrmonatigen Aufenthalten Zugang gefunden zu chinesischen Dissidenten. Sie haben ihr die Augen geöffnet für die allgegenwärtige Überwachung durch das totalitäre System sowie die verdeckten und offenen Drohungen gegen alle von der Parteilinie abweichenden Ansichten. Die Ermordung einer kritischen Studentin, die Denemarková kannte, durch den Geheimdienst, sei dann der Punkt gewesen, wo sie sich entschlossen habe, das chinesische System und die westliche Anbiederung daran mit den Mitteln der Literatur zur Kenntlichkeit zu entstellen, erzählte die Autorin bei der Buchpräsentation in Graz.
Bücher retten das Leben
„Stunden aus Blei" arbeitet mit symbolischen Überhöhungen, mit Fabel-artigen Abschnitten und einmontierten Passagen aus den Schriften von Konfuzius und Václav Havel sowie mit essayistischen Einschüben - das Ganze unterfüttert mit Szenen aus dem Leben der Protagonisten, die teilweise ans Groteske grenzen. Denemarková entwirft auf diese Weise auf rund 900 Seiten ein vielstimmiges Panoptikum einer geblendeten Welt, der es im Grunde nur um den persönlichen Vorteil und Gewinn geht, und wo Menschlichkeit, Menschenrechte und Freiheit auf der Strecke bleiben.
Russlands Überfall auf die Ukraine und unsere Abhängigkeit von russischem Gas haben uns gezeigt, dass es ein böses Erwachen geben kann, wenn man die Moral ausblendet, um mit totalitären Staaten Geschäfte zu machen. Dank ihrem unbestechlichen Blick hat das Radka Denemarková schon lange vor dem Februar 2022 geahnt: "Es ist nicht schlimm, etwas nicht zu wissen - es nicht wissen zu wollen, das ist schlimm", lautet eine der Einsichten in „Stunden aus Blei". Kein Wunder, dass die Autorin in China Einreiseverbot hat.
An anderer Stelle wird von ihr der Möglichkeitsraum der Literatur als Ausweg aus der Empathielosigkeit des Turbokapitalismus angepriesen: „Literatur ist der Schlüssel zum Leben anderer Menschen. Die Figuren ermöglichen dem Leser, verschlossene Räume innerhalb seiner selbst zu sichten. Sie bringen ihm Liebe bei. Retten das Leben." - So setzt Denemarková, die sich gerne „Schwalbe von Prag" nennt, in ihren Büchern schließlich die „Güte der Schwalbe" den „Gesetzen der Herrscher" entgegen: „Die Güte der Schwalbe hat ein größeres Gewicht als die Gesetze der Herrscher", lautet das Motto auf Denemarkovás Homepage.
Hinweis: Eine Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Radka Denemarková und Daniela Strigl anlässlich der Buchpräsentation von „Stunden aus Blei" am 1.2.22 im Literaturhaus Graz findet sich zum Nachhören in Barbara Belics Radioreihe „Das rote Mikro" >>
Werner Schandor
Stand: August 2022