Pazifismus mit den Tools des Krieges (*)
Das pseudomarxistische Kollektiv „Total Refusal“ erobert den halböffentlichen Raum von populären, teuer programmierten Computerspielen, um sich dort dann gründlich danebenzubenehmen.

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Eine Gruppe von jungen, fitten Menschen in wetterfester Freizeitkleidung fährt per Rad durch eine dystopische Stadt, die der sowjetischen Reißbrett-Stadt Workuta in Komi nachempfunden ist. Immer wieder wird die Gruppe von Zombies belästigt. Die Spielerinnen und Spieler, in deren Rollen die Mitglieder des Kollektivs Total Refusal geschlüpft sind, lassen sich davon aber nicht beirren und setzen ihre Reiseführung "Desaster Tourism" fort. Anhand der Straßenzüge, der Möbel, der Architektur erklären sie den Zusehern den Fall der Sowjetunion und den Aufstieg des Kapitalismus, der uns so gerne als Sieg der Freiheit verkauft wird. Der etwa einstündige Film "Desaster Tourism (2021)" war ein Beitrag für den russischen Pavillon bei der Architektur-Biennale in Venedig 2021. Spannend, enorm informativ und trotzdem flockig leicht bringt er vieles auf den Punkt, was nicht nur seit dem Angriffskrieg in der Ukraine Hochsaison hat: Kapitalismuskritik und Pazifismus.
Krieg, Kapitalismus und Klimakrise
Statt geschossen wird in den Spielen, in denen es eigentlich nur ums Abknallen geht, diskutiert, mit Wölfen gespielt, ein Picknick abgehalten, eine ausgiebige Stadtführung abgehalten („Operation Jane Walk", 2018), geblödelt oder sich mit Spiel-Statisten beschäftigt, die eigentlich nicht viel anderes zu tun haben, als einen Eimer auszuleeren oder einen Ballen Heu von links nach rechts zu schieben („Working Hardly", 2021). Total Refusal macht Ego-Shooter-Spiele zu Antikriegsfilmen, untersucht die Arbeitsbedingungen von Nicht-Spieler-Figuren (Non-player Characters, NPCs) ethnografisch oder stellt beängstigende Szenen mit weggeschwemmten Kühen und Hausrat im Fluss als Folgen des Klimawandels nach („Murpod", 2020). Bei der geplanten „Murpod"-Aufführung in der Grazer Augartenbucht wurde das Kollektiv von der Realität überrollt: Ein Hochwasser im Sommer 2021 machte den geplanten Termin der Eröffnung der Installation unmöglich.
Gegen den Ernst im Spiel
Es ist die Hingabe und Hassliebe zu Videospielen, die das Kollektiv eint. Total Refusal sind die Videokünstlerin Susanna Flock, der Kulturanthropologe Robin Klengel, der Philosoph Michael Stumpf, der Medienwissenschaftler und bildende Künstler Leonhard Müllner, der Politikwissenschaftler Adrian Haim und der Filmemacher Jona Kleinlein. Gaming hat sie zusammengebracht, zu einer Medien-Guerilla vereint und zu ihrer Kunstform inspiriert. Eine Herangehensweise, die neu, mutig, sehr theoretisch, aber auch ziemlich witzig ist. Total Refusal schaffen einen konsequenten und gut nachvollziehbaren Spagat zwischen Popkultur und angewandter Denkarbeit.
"Kriegsspiele leben davon, dass sie sich zu ernst nehmen. Alle wissen, es ist nicht ernst, aber alle müssen den Ernst performen, der das Spiel zusammenhält. Diesen Ernst nehmen wir nicht ernst, den versuchen wir zu stören", so das Credo. In Mainstream-Spielen herrscht wenig Reflexion über das Politische des eigenen Materials. Total Refusal verwendet die Spiele so, dass sie zu einem künstlerischen Artefakt werden. Dabei wird in den Algorithmus der Spiele nichts eingegriffen. Es wird nicht umprogrammiert und nur ganz wenig moduliert. Die Performance entsteht rein durch das Anderssein, ein alternatives Spielverhalten und die Texte, die als neue Erzählungen über die abgefilmten Spielszenen gelegt werden.
Von Gamern zu Filmemachern
Begonnen hat alles 2018 mit einer Filmperformance. Leonhard Müllner und Robin Klengel machten im Ego-Shooter-Spiel "Tom Clancy‘s: The Division" eine Führung durch die sorgfältig gerenderte Spielumgebung von Manhattan. Mehr zum Ausprobieren als aus ernster Ambition wurde eine 16-minütige Kurzversion davon namens "Operation Jane Walk" beim Festival des österreichischen Films, Diagonale, eingereicht. 2020 wurde der Kurzfilm "How to Disappear", der sich mit dem Tabuthema Desertieren beschäftigt, von der Diagonale-Jury zum besten Kurzdokumentarfilm gekürt und auch bei der Berlinale gezeigt. Seit 2018 wurden Arbeiten von Total Refusal mit bislang über 30 Preisen ausgezeichnet und auf mehr als 300 internationalen Film- und Videofestivals präsentiert, darunter die Ars Electronica Linz, die „Doc Fortnight" im MoMA, New York, oder das HEK (Haus der elektronischen Künste) Basel.
Nährender Schoß
Das Kollektiv, das zahlreiche Associates und lose Mitstreiterinnen und Mitstreiter hat, ist während der Coronapandemie auf sechs Mitglieder angewachsen, da es so viele Aufträge gab. Filmbeiträge für den Pavillon der SteiermarkSchau 2021, die Ausstellung im Grazer Kunsthaus oder der Beitrag „Murpod" zum Kulturjahr Graz 2020 fielen in diese Zeit. "Das Land Steiermark und die Stadt Graz waren wie eine Art Schoß, der mit seiner Kulturförderpolitik Total Refusal ernährt und unterstützt hat", heißt es mit Augenzwinkern. Ein Atelierstipendium ermöglichte die Arbeit am "Kinderfilm (in Progress)". Fast alle Arbeiten von Total Refusal sind auf der Homepage des Kollektivs zu finden.
Lydia Bißmann
Juli 2022
*Update 2024: Medienguerilla an der Adria
Leonhard Müllner und Susanna Flock vom Medienkunstkollektiv „Total Refusal" waren im Februar und Juni 2024 im Rahmen des Atelier-Auslandsstipendiums in Rijeka, um Kontakte zu knüpfen und an einer für 2025 geplanten Ausstellung sowie gemeinsam mit den Total Refusal-Mitgliedern Robin Klengel und Michael Stumpf an aktuellen Projekten zu arbeiten.
Im April 2024 war Total Refusal mit der In-Game-Performance Sons and True Sons zu Gast beim STRP-Festival in Eindhoven (Niederlande) und beim Donaufestival in Krems. „Grundlage für unsere Performance war das Spiel Tom Glancy's: The Division 2 aus dem Jahr 2019, in dem die Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 spielerisch vorweggenommen wurde", berichtet Leonhard Müllner. Thematisiert wurden dabei auch der Einfluss, den Rechtsaußen-Einflüsterer wie Steve Bannon, der ehemalige Trump-Berater, auf die Gaming-Community ausüben, um diese für politische Zwecke zu mobilisieren.
Auf der Website des Donaufestivals heißt es dazu: „Die Ähnlichkeiten zwischen der Darstellung der zivilen Miliz True Sons, die im Spiel die Kontrolle über den digitalen Sitz des Kongresses übernimmt, und dem realen Auftreten der paramilitärischen, kryptofaschistischen Gruppen wie den Proud Boys oder den Oath Keepers bei der realen Erstürmung des Kapitols sind in der Tat unheimlich. Inspiriert davon überschreibt Total Refusal bei der Live-Gaming-Lecture die Spieleversion der Kapitol-Erstürmung. Das Kollektiv untersucht dabei die Krise der liberalen Demokratie und die hypermaskulinistische Selbstermächtigung in Gaming-Räumen und wirklichen Räumen."
Zweiter Langfilm in Arbeit
Gemeinsam mit Robin Klengel und Michael Stumpf haben Leonhard Müllner und Susanna Flock in Rijeka nicht nur an dieser Live-Performance von Total Refusal gearbeitet, sondern auch am zweiten Langfilm des Kollektivs mit dem Arbeitstitel: „Money is a Form of Speech". Dabei widmet die „pseudomarxistischen Medienguerilla" (Eigendefinition) der Verbindung von Kapitalismus und Demokratie ihre Aufmerksamkeit, und wiederum ist es das Game „The Division 2" mit seinem postapokalyptischen Szenario zwischen Kapitol und Weißem Haus in Washington D.C., das den Schauplatz für die subversive künstlerische Aneignung von Total Refusal abgeben wird.
Ausstellungskonzepte und zahlreiche Kontakte
Zudem arbeiteten Müllner und Flock konzeptionell an einer für Herbst 2025 geplanten Gruppenausstellung im MMSU, dem Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Rijeka. Dort sollen neben Werken von Total Refusal und Susanna Flock als Solokünstlerin auch thematisch verwandte Arbeiten der Kroatin Petra Mrša und des Deutschen Gabriel Hensche zu sehen sein, die ebenfalls im Feld der Medienkunst angesiedelt sind. Kuratorin der geplanten Ausstellung ist MMSU-Direktorin Branka Benčić.
Rijeka, die Europäische Kulturhauptstadt 2020, präsentierte sich Flock und Müllner als höchst vitaler Ort, an dem sie zahlreiche Kontakte zu kroatischen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern knüpfen und vertiefen konnten, aber auch zu Intellektuellen wie dem kroatischen Philosophen und Kurator Srećko Horvat. Dieser hatte 2023 Arbeiten von Total Refusal ins Programm des von ihm kuratierten internationalen Dokumentarfilmfestivals „Beldocs" aufgenommen.
„Es gibt eine interessante Szene in Rijeka", sagt Leonhard Müllner, „die Leute sind teilweise von Zagreb dorthin gezogen. Es ist eine der wenigen Städte an der Adria, die touristisch nicht überlaufen ist, und es ist dadurch wahnsinnig angenehm für den Aufenthalt."
Werner Schandor
August 2024