Literatur ist Kommunikation mit Fremden
Der Autor Paul Ferstl schreibt Romane voller Absurditäten, Komik und Ernsthaftigkeit, die ein wunderbares Abbild der Wirklichkeit ergeben und im Gedächtnis und Gespräch bleiben möchten.
Es ist für eine literarische/wissenschaftliche Karriere nicht hinderlich, wenn man aus einer bildungsbürgerlichen Familie kommt wie Paul Ferstl. Geboren und aufgewachsen in Leoben in der Steiermark, durchlief er dort alle Stationen einer klassischen Schullaufbahn, bis es ihn zum Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und Germanistik in die weite Welt zog, sprich nach Wien und Brüssel. Danach führte ihn der Ruf der Fremde nach Rumänien, um dort seinen Zivildienst abzuleisten. Ein Abenteuer, das sich später in seiner Literatur niederschlagen sollte. Mittlerweile lebt Paul Ferstl in Wien. Er hat eine Erzählung und drei Romane veröffentlicht und wird von Kritikerinnen und Lesern gleichermaßen hochgelobt.
Spezialgebiet Provenienzforschung
Neben dem Autor gibt es noch den Wissenschaftler, der nicht minder umtriebig ist. Sein Spezialgebiet ist die Provenienzforschung, die ihn in zahlreichen Reisen und Aufenthalten quer durch Europa führte. Sein Forschungsinteresse gilt u. a. der Buch-, Buchhandels- und Bibliotheksgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, sein Zugang zu Forschung und Lehre ist ein sehr offener. Wie sonst könnte man sich seine Dissertation zum Thema „Professional Wrestling" erklären? Wobei hier dem Ganzen wohl auch Biografieforschung und gesellschaftlich-soziale Aspekte zugrunde liegen. Paul Ferstl war Mitarbeiter beim Allgemeinen Entschädigungsfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und unterrichtete drei Jahre an der Med-Uni Wien Gesprächsführung im Rahmen von Anamnesegruppen. Seit 2006 lehrt Ferstl am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien.
Die Welt der Wissenschaft ist für ihn aber nicht nur eine der Lehre, sondern auch eine produzierende, publizierende. 2012 gründete er den Wissenschaftsverlag Ferstl & Perz, und 2018/19 leitete er das Wiener Büro des Peter Lang Verlags, eines international agierenden Wissenschaftsverlags. Mittlerweile aber hat sich sein Interesse wieder der selbst produzierenden und schriftstellerischen Seite zugewandt.
Zwei Seiten, die sich bedingen
Die Literatur auf der einen, die Wissenschaft auf der anderen Seite - das sind zwei Seiten, zwei Zugänge zu Welt und Wirklichkeit, die sich nicht unbedingt ausschließen, sondern sich gerade im Fall von Paul Ferstl bedingen. Der Blick auf die Gesellschaft, auf die Menschen, die beobachtende, aber nicht wertende Aufmerksamkeit wird geschult durch die Exaktheit der Wissenschaft. Die Klarheit der Analyse findet ihren literarischen Ausdruck in einer Sprache und in Bildern, die einzigartig und mitunter von ungemeiner Poesie sind. Diese Sprachbilder sind weit entfernt, gängige Metaphern heraufzubeschwören, sind aber in sich selbst nicht selten metaphorisch. Ein Beispiel aus „Das Grab des Ivan Lendl": „[Er hat] das Wissen aber tief nach unten gestopft. Das Wissen sprang immer hoch wie ein Delphin aus einem Grab."
Und noch etwas anderes macht Paul Ferstls Texte einmalig - sein Hang zu subtiler Komik, zum Absurden, das den Romanen oftmals die Schwere nimmt, die Tragik abmildert und sie ins Leichte bringt. Für Ferstl sind es gerade das Tragische und das Komische, die dem Leben in seiner Komplexität am ehesten gerecht werden. Die Komik, mitunter sogar das Absurde, hilft, um mit den Schwernissen des Lebens besser umzugehen. Sie entsteht oftmals durch genaue Beobachtung und Beschreibung einer Situation und zeigt die Ambivalenz des Lebens. Die Komik ist nicht nur ein Stilmittel, sondern eine Lebenshaltung, die Paul Ferstl auch für sich selbst in Anspruch nimmt.
Präsenz des Todes im Leben
Und damit sind wir schon bei einem weiteren Thema oder besser gesagt dem zentralen Thema in Paul Ferstls Literatur: der Präsenz des Todes im Leben. Das mag seiner katholischen Erziehung geschuldet sein, wie er meint, aber der Tod als Endpunkt des Lebens ist eine Tatsache, die alle Menschen in jedem Alter direkt oder indirekt betrifft. So sind auch die Figuren in seinen Texten damit konfrontiert: Der Tod ist ein Motiv, das in verschiedensten Varianten Gestalt annimmt, sei es durch eine Krebserkrankung („Der Knoten", 2014), durch sterbende Fische auf der einen, den grausamen Tod Tausender in Nagasaki und einen Mord auf der anderen Seite („Fischsitter", 2018) oder den Tod eines ehemaligen Zivildieners in Rumänien („Das Grab von Ivan Lendl", 2022). Immer wieder werden Paul Ferstls Figuren mit diesem Thema konfrontiert und entwickeln, je nach Alter und Situation, verschiedene Strategien, um damit umzugehen, zu akzeptieren oder auch zu verdrängen. Tod und Leben, Sehnsüchte und Ängste, Wünsche und Hoffnungen - dies sind Empfindungen, die universell sind und in den Geschichten seiner Figuren individuellen Ausdruck finden.
Empathie über die eigene Erfahrung hinaus
Paul Ferstl hat in einem Interview einmal behauptet, er sei von Comics beeinflusst, in seinem Kopf entstünden Bilder. Dies würde seinen Zugang zum Schreiben beeinflussen, was man bei der Lektüre seiner Romane durchaus nachempfinden kann. Für ihn ergeben das Neben- und Miteinander der Bilder erst Literatur, wobei er versuche, einen Rhythmus zu finden, indem er auch den Ton etwa wie bei einer Filmmusik beim Schreiben mitdenke. Das macht wohl für die Leserin, den Leser den eigenen Klang seiner Texte aus. Und noch etwas entsteht: der Eindruck, dass Paul Ferstl seine Figuren versteht und mag, auch wenn sie Ungustln sind. Seine Achtsamkeit, geschult auch durch den Unterricht an der Med-Uni, schlägt sich in seinen Dialogen nieder. Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, erzeugen diese Dialoge Szenen, die auch mit all den ungesprochenen Zwischentönen nahe an der gesprochenen Wirklichkeit realer Menschen zu sein scheinen.
Für Paul Ferstl sei es wichtig, Empathie zu empfinden, die über die eigene Erfahrung hinausgeht. Das sei Aufgabe der Literatur, das ermögliche es, über soziale oder politische Konflikte zu schreiben, das ermögliche es, das Allgemeine im Individuellen abzubilden, in eine Geschichte zu gießen, die mitleben und miterleben lässt und zum Nachdenken anregt. Davon wird man sich auch in seinem nächsten Projekt überzeugen können. Es führt ihn zurück zu seinen Wurzeln - sowohl geografisch als auch historisch. Es wird eine Geschichte vor dem Hintergrund der eigenen Herkunft sein, ein Roman, der in der Gegend der steirischen Eisenstraße in der Zeit um 1938 spielt. Mehr sei noch nicht verraten.
Offen sprechen können
Zum Schluss noch ein faszinierender Gedanke: Das Erstaunlichste an Literatur ist für Paul Ferstl, dass sie es ermögliche, Menschen in Kontakt miteinander zu bringen; dank Literatur können sich in der Lektüre völlig Fremde plötzlich mit großer Aufrichtigkeit über absolut wichtige Dinge austauschen - angeregt, animiert durch einen Roman, ein Gedicht, einen poetischen Text. Das sei das Schöne, das Paul Ferstl durch seine Literatur erfahre, und auch sein großer Wunsch: Mit vielen Menschen offen sprechen zu können. Sein Traum wäre es, dass seine Bücher im Gespräch bleiben würden, dass sie wieder und wieder gelesen und wieder und wieder darüber nachgedacht und gesprochen würde.
Website des Autors Paul Ferstl >>
Christine Wiesenhofer
Stand: Dezember 2022