Fasziniert von den Farben
Die Obersteirerin Frida Cramer sieht sich selbst nicht als Künstlerin, aber ihre mit Pastellkreiden gemalten Bilder voller Witz und Doppelbödigkeit zeigen etwas anderes.
Aich im Ennstal im Frühjahr 2023: Irgendwann fallen mir im besten Wirtshaus am Platz die Gemälde auf, die über die Räume verteilt sind und das Interieur des Landgasthauses mit einer Brise Ironie bereichern. Zu sehen sind eine Jugendstil-Dame in Gelb auf einem Sofa im Freien, im Hintergrund die Dachstein-Kette; das Bildnis der Mona Lisa, von dessen Rahmen ein Dirndkleid auf einem Kleiderbügel hängt; eine alte Frau, die auf der Ablagefläche ihres Rollators steht und das überlebensgroße Bild eines Models an eine Wand sprayt ... Die Bilder sind gewitzt aufgebaut und gut ausgeführt. Drei Wochen später sitze ich bei der Urheberin der Gasthaus-Ausstellung im Wohnzimmer und schaue auf den Gröbminger Hausberg Kammspitze in natura.
Frida Cramer heißt die Künstlerin, die bei der telefonischen Kontaktaufnahme skeptisch war, ob sie überhaupt in die „ARTfaces" gehöre. Schließlich sei sie keine ausgebildete Malerin und male auch erst seit ein paar Jahren. Frau Cramer serviert Kaffee und selbstgemachten Cheesecake und erzählt auf Nachfrage von ihrem Weg zur Kunst. Aufgewachsen ist sie in den 50er- und 60er-Jahren in Schladming und in der Ramsau. Am Gymnasium Stainach nahm sie an der Zeichengruppe teil, interessierte sich aber mehr für Sprachen und machte schließlich ganz etwas anderes, nämlich in Wien eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin (MTA). Die Liebe brachte sie nach Deutschland: zuerst in die Gegend von Köln, dann nach Garmisch-Partenkirchen, das ihr zur zweiten Heimat wurde. Als es auf die Pension zuging, suchte sich die Familie ein Häuschen im Ennstal und ließ sich bei Gröbming nieder. Frida Cramer erinnerte sich an die Freude am bildnerischen Gestalten und griff zu Ölfarben und Leinwand. Die Faszination für die Malerei erwachte. Aber erst während eines zweijährigen Intermezzos zurück in Garmisch fand sie zu ihrer eigentlichen Leidenschaft: den Pastellkreiden.
Gemalt wird mit den Fingern
Frida Cramer holt ein paar nach Farben geordnete Schachteln mit Kreiden aus dem Schrank, dazu einen braunen Malkarton, um zu demonstrieren, wie die Farben aufgetragen werden. Bei den Materialien, mit denen sie sich in einem Spezialgeschäft in Bad Reichenhall eindeckt, achtet sie auf die beste Qualität. „Wenn ich ins Geschäft gehe und die Pastellkreiden sehe, könnte ich reinbeißen, so toll sind die Farben!", sagt sie und zieht aus dem Handgelenk eine geschwungene Linie über den leicht rauhen Malkarton, dann verteilt sie die Pigmente mit den Fingern dorthin, wo sie die Farben haben will. Denn gemalt wird mit den Fingern. Die aus den Kreiden gelösten Farbpartikel ermöglichen leuchtende Flächen ebenso wie feinste Schattierungen und Übergänge, technisch versierten Anwendern wie Frida Cramer gelingen damit selbst fotorealistische Bilder.
Den Umgang mit den Kreiden erlernte Cramer bei einem Malkurs in Garmisch-Partenkirchen. Der Maler Heinz Wrona, der den Kurs leitete, erkannte rasch das Talent seiner Schülerin und nahm sie in die Künstlergruppe „Minerva" auf. Im Kurs ließ Wrona unter anderem Kopien von Meisterwerken der Malerei anfertigen, um das Handwerkliche zu vertiefen. Dadurch bekam Cramer einen Blick für die Kompositionen moderner Maler wie Gustav Klimt, Picasso in seiner Blauen Phase oder den deutschen Realisten Alfred Baluschek. Über das reine Kopieren hinausgehend, schuf Cramer in den letzten Jahren zahlreiche „Museumsbilder". Sie zeigen fiktive Ausstellungen und Museumsbesucher - in der Regel Frauen oder Kinder - vor Bildern, zum Beispiel ein Mädchen in rotem Tutu vor einem Ballettbild a la Renoir; ein Junge mit Kindergitarre vor Picassos altem Gitarrenspieler; junge Frauen, die in Bilder Klimts vertieft sind und vielleicht von einem flirrenden Leben träumen.
Bilderwelten werden gebrochen
Frida Cramer bricht die Bilderwelten aber auch noch auf andere Weise, indem sie Meisterwerke neu kontextualisiert, wie bei der Mona Lisa mit Dirndlkleid, oder indem sie bekannte Bilder in Genre-Szenen einbettet: Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrgehänge" lässt sie durch ein mediterranes Gässchen schreiten. Eine Frau mit van Goghs „Sonnenblumen" im Arm flaniert durch einen lichtdurchfluteten Kreuzgang. Oder die eingangs erwähnte Dame in gelbem Kleid: Diese stammt vom Wiener Secessionisten Maximilian Kurzweil und wird von Cramer aus dem Fin-de-Siecle-Salon kurzerhand in die Ennstaler Bergwelt transferiert.
Die Ideen zu ihren Bildern schnappt die Malerin manchmal in Zeitungen oder von anderen Bildern auf. Zum Beispiel von einem Foto, das 2017 viral ging: Es zeigt lachende Nonnen im Habit, die vor Michelangelos nacktem David in Florenz ein Selfie machen. Cramer kopierte die Szene, aber statt der Nonnen lässt sie Ennstaler Landfrauen in Dirndlkleidern vor der Statue posieren und verleiht dem Bild damit eine ganz eigene Note. Von diesem und anderen Motiven fertigt Cramer oft mehrere Varianten an. So gibt es die Mona Lisa mal mit Dirndl und mal mit Ballkleid. Die jungen Ausstellungsbesucherinnen begutachten mal Bilder von Klimt, mal sind sie in einer Ausstellung von Frida Kahlo. Und auch die alte Frau, die auf dem Rollator steht und eine Wand vollsprayt, fertigt auf einem Bild das Mural eines jungen Models an und auf dem anderen das Bild der exzentrischen Granny Puretta aus Kuba, die mit Orchideenhaarband, dicker Architektenbrille und noch dickerer Zigarre im Mund das konventionelle Bild alter Frauen sprengt.
Das Bild, das man von sich hat
Frida Cramer hat es nicht auf Grenzübertretungen oder Gesellschaftskritik angelegt, auch wenn sie mit ihren Bildern hin und wieder aneckt, etwa mit den Kindern, die vor Picassos „Guernica" stehen und sich den Mund zuhalten: Prusten sie vor Lachen oder vor Verunsicherung? Cramer malt einfach, was ihr in den Sinn kommt und was sie in ihrer Umwelt sieht: Zum Beispiel, dass Kinder auf das Entsetzen oft nicht so reagieren, wie wir Erwachsene es erwarten würden. Seit über zehn Jahren gestaltet sie mit Konstanz und großer Freude an ihren Farben Bilderwelten, in denen Kinder, Frauen und die Malerei selbst die Hauptrolle spielen. Dabei sieht sie sich eher als Technikerin, die öfter nach Fotos malt, denn als kreative Künstlerin. Doch hin und wieder täuscht das Bild, das man selbst von sich hat.
Werner Schandor
Stand: März 2023