Die Poesie des Alltags
Nigel Gavus entführt seine Zuseher*innen in eine fast märchenhaft anmutende Sphäre der Alltagspoesie. Seine essayistischen Filme spielen auf der Straße, in unaufgeräumten Wohnungen oder im Zug. Er arbeitet mit Schauplätzen, Sprachen und Situationen, die unterschiedlicher nicht sein können, aber trotzdem immer eines gemeinsam haben: ein freundliches, aufrichtiges Interesse an Menschen und ihren Umgebungen.
Freiheit und Sicherheit im Blick
Es sind die Bilder, die Dinge zwischen den Zeilen und weniger fertige Storys, die den jungen Filmemacher und bildenden Künstler interessieren, und aus denen er seine Werke konstruiert. In Graz geboren, versuchte er sich zuerst als Koch, bevor er sich in Wien in die Schule von Friedl Kubelka für unabhängigen Film einschrieb. Dort entdeckte er seine Liebe zum analogen Film, dessen Handhabe europaweit nur noch hier unterrichtet wird. Das teure Material erfordert einen sicheren Umgang und einen fokussierten Blick, den der Filmemacher, der auch als bildende Künstler arbeitet, immer mitbringt. Vielleicht ist es dieser eine Fixpunkt, der ihm die Freiheit gibt, überall, wo er hingeht oder hinreist, Stoff für seine episch anmutenden Erzählungen, die fast wie Gemälde daherkommen, zu sammeln.
In Mexiko City begleitete er im Dezember 2022 den Street Photographer Matthew Phipps auf seinen Streifzügen durch die quirlige, bunte Megacity auf der Suche nach Inspiration für dessen Aufnahmen. 2023 kollaborierte er mit der katalanischen Fashiondesignerin Mari Baudi und der mexikanischen Komponistin/Soundkünstlerin Janine Jop, mit deren Unterstützung er im Zuge der „Medienfrische Art Residency" in Tirol eine neue filmische Arbeit realisiert hat.
Stillstand und Bewegung
Um Geräusche und die Orte ihres Entstehens geht es nicht zuletzt in dem Film „Untitled" (2022), für den er den Soundkünstler Eilert Asmervik mit seinem wuscheligen Mikrofon in Frankfurt filmte. Am Hafen, im Shoppingcenter, vor Großbaustellen oder einem Lüftungsschacht der Oper hatte er Audioaufnahmen gesammelt. Dabei gerät der Protagonist in Freidenker-Demos mit russischen Flaggen, auf eine Oberschicht-Party, bei der alle Tennisbekleidung tragen, oder in berührenden Kontakt mit einem Passanten, der ihn um Feuer bittet. Es gibt zwar eine Geschichte, die alles miteinander verbindet, aber sie hält sich dezent im Hintergrund, was ihr jedoch nichts von ihrer Aussage oder Kraft raubt. Es ist das Spiel zwischen Stille und Bewegung, das den Arbeiten von Nigel Gavus auch ihre Spannung verleihen. Nicht unbedingt Zufall: Selbst aktiver Skateboarder, fand er, wie viele andere aus der Szene, über den urbanen Sport, der sich auch über Architektur und Orte im Raum definiert, seine Schnittstelle zur Kunst.
Poesie der Popkultur
In dem Werk „It's on a day like this", einer Gemeinschaftsproduktion mit der Künstlerin İlkin Beste Çirak, wird eine junge Frau bei Alltagshandgriffen gefilmt wie Haare waschen, Zähne putzen, Spaghetti kochen oder Tarotkarten legen, die hier zu poetischen und sinnlich aufgeladenen Aktionen werden. Jedes Fliesenmuster, jede Schaumblase, jede Kaffeetasse oder Foto aus einer Schachtel rittern mit der Darstellerin um die Hauptrolle. Bild, Ton und Text berühren die Betrachter*innen simultan, aber eigenständig von allen Seiten. Das wirkt modern, aber auch behaglich und alles andere als überfordernd. Für die Arbeit „Letters from a Window" wurden Nigel Gavus und İlkin Beste Çirak mit dem „ORF.at Audience Award 21′" für den besten Film unter zehn Minuten ausgezeichnet. Sie brachte dem Duo auch eine Erwähnung am „Tenerife International Short Film Festival 2021" ein. Das Filmpoem in schwarz-weiß behandelt die Themen Einsamkeit und Sehnsucht nach menschlichem Kontakt in Zeiten der Corona-Lockdowns.
Ein Filmstipendium des Landes Steiermark führte Gavus in eine Residency in die Zeta Gallery nach Tirana, er war auch für den „Vordemberge-Gildewart Award 2022" nominiert, eines der höchstdotierten Stipendien für Künstler*innen unter 35 in Europa. Seine Arbeiten waren 2022 im Mumok - Museum für moderne Kunst Stiftung Ludwig Wien zu sehen. Gavus‘ Filme liefen bei der Diagonale ‘19, ‘20 und ‘22 (Innovatives Kino), waren bei Vienna Shorts und IndieLisboa und den internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen zu sehen.
Nigel Gavus kann aber auch gezielt dokumentarisch arbeiten: Für das Land Steiermark filmt er im Duo mit İlkin Beste Çirak Porträts von Kulturpreisträger*innen des Landes Steiermark, wie die Literatinnen Radka Denemarková und Ulrike Haidacher, die Komponistin Elisabeth Harnik oder den Kulturverein „Griessner Stadl". Auch diese Aufgabe meistert der 1992 geborene Filmemacher mit Begeisterung. „Ich konnte gar nicht glauben, wie inspirierend es sein kann, andere Künstler*innen bei ihrem Schaffensprozess zu begleiten und gleichzeitig von ihren Erfahrungen zu lernen."
Platz für Ton und Fundstücke
Aktuell studiert Nigel Gavus an der Akademie für bildende Künste in Wien. 2023/24 ist er „Kunstraum Steiermark"-Stipendiat des Landes Steiermark. Mit dem Stipendium kann er sein Atelier am Grazer Ortweinplatz unterhalten, das er hauptsächlich für seine Assemblagen, Malereien und skulpturalen Arbeiten nutzt und das bis oben hin vollgestopft mit Fundstücken von der Straße ist. Seine Werke wurden bislang in den Hotspots der Subkultur, bei Gruppenausstellungen „Gift" (2022) im Schaumbad, in den Räumen der Galerie Roter Keil („Banale" 2021 und „they asked a totally useless question" 2022) und im Kunstgarten („Rochade" 2022), aber auch in etablierten Häusern wie der Neuen Galerie Graz (Kunstraum Steiermark 2020) und der Halle für Kunst Steiermark („Domestic Drama") gezeigt. Für 2024 wurde er vom Direktor des Kunsthauses Bregenz, Thomas D. Trummer, gemeinsam mit İlkin Beste Çirak für den Dorothea-von-Stetten-Kunstpreis nominiert, eine Auszeichnung, die sich ausdrücklich als Förderpreis für junge Nachwuchskünstler*innen versteht.
Lydia Bißmann
Juni 2023