Einsamkeit im digitalen Zeitalter
Ihre bisherigen Arbeiten hat Veronika Muchitsch in führenden amerikanischen und britischen Comic-Verlagen veröffentlicht. Im Zentrum ihrer Geschichten stehen Lebensentwürfe des Internetzeitalters.
Die in Cornwall lebenden Comic-Künstlerin ist fasziniert von der Möglichkeit, mit Bildern Geschichten zu erzählen und Gefühle zu vermitteln. „Wenn man sich Comics vorstellt, denkt man oft an Bilder in Kästchen und Superhelden, aber das Spannende an diesem Medium ist, wie man die Verbindung zwischen Inhalt und Form herstellen und Geschichten auf ungewöhnliche Weise erzählen kann", sagt Veronika Muchitsch im ARTFaces-Interview während des jährlichen Heimaturlaubs Anfang Juli 2023 in Graz. Die Zeichnerin, die 2012 an der FH Joanneum „Informationsdesign" inskribierte, ist 2014 im Rahmen eines Erasmus-Austausches nach England gegangen - und dort geblieben. Ihren Bachelor in Illustration hat sie an der Universität Plymouth gemacht, ihren Master für Narrative Illustration im Hafenstädtchen Falmouth in Cornwall, der südwestlichen Urlaubsecke von England.
Formal spannende Vorbilder
Den Anstoß, sich über Buch-Illustration hinaus mit alternativer Comic-Kunst zu befassen, erhielt sie während des Bachelor-Studiums durch eine Freundin, die ihr die Graphic Novel „Here" (1989) von Richard McGuire borgte. „In dem Buch geht es immer um denselben Raum, und was sich dort im Lauf der Zeit ereignet - von der tiefsten Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft, oft in einem Bild ineinander verschränkt und dennoch sehr minimalistisch gehalten", führt Muchitsch aus. Dieser Band habe ihr die Augen dafür geöffnet, wie sich im modernen Comic die bildhafte und die erzählerische Ebene auf formal spannende Art miteinander verbinden lassen. Eine Verschränkung, die die Zeichnerin und Erzählerin mittlerweile selbst meisterhaft beherrscht.
Das Beobachten dokumentieren
2017 wurde Muchitsch für ihre Arbeiten der Graphic Literature Award des englischen Comic-Verlags Atlantic Press zuerkannt. 2020 gewann sie die britische First Graphic Novel Competition und damit einen Vertrag für ihr Buch „Cyberman", das 2022 im renommierten Comic-Verlag Myriad Editions erschienen ist. Das Buch befasst sich mit dem Youtube-Projekt des 2019 verstorbenen Finnen Ari Kivikangas alias Cyberman, der schon lange vor Corona seinen Alltag 24/7 im Internet streamte.
„Auf Ari Kivikangas bin ich durch einen Online-Artikel gestoßen", erzählt die Comic-Künstlerin. „Ich bin auf seine Website gegangen und habe ihn live auf dem Bildschirm gesehen. Das war für mich eine sehr eigenartige Erfahrung, die ich als sehr voyeuristisch erlebt habe. In gewisser Weise habe ich mich selbst ausgestellt gefühlt. In meinem Buch wollte ich mich mit diesem Gefühl auseinandersetzen, deshalb habe ich angefangen, Ari bewusst zu beobachten und das Beobachten bewusst zu dokumentieren", sagt Muchitsch und resümiert: „‘Cyberman‘ ist weniger ein Buch über Ari als vielmehr ein Buch über den Akt des Zuschauens."
Wenn man beim Ikea einzieht
Die Arbeit an „Cyberman" war für sie eine „fast therapeutische Beschäftigung", wie sie erzählt. Muchitsch befasst sich zwar oft mit Themen unseres digitalen Lebens, ihr Arbeitsprozess ist aber weitgehend analog. Für „Cyberman" hat sie sich mehrere Monate in einem fensterlosen Kammerl in einer Buchhandlung von Freunden eingemietet und dort auf dem Lichttisch die Skizzen und Gouachen angefertigt. Erst in der Postproduktion werden diese Bilder digitalisiert und leicht nachtbearbeitet.
„Cyberman" war Muchitschs erste Graphic Novel in Langform. Davor hat sie kürzere Geschichten in Anthologien veröffentlicht, unter anderem beim führenden US-Verlag Fantagraphics in Seattle. Eine dieser Geschichten, „I, Keira" (2020), erzählt von einer älteren Frau, die beschließt, ihr Leben in einem Ikea-Store einzurichten, wo sie ihren Alltag in einer Art öffentlicher Isolation verbringt. Auf die Idee zu dieser Geschichte kam Muchitsch, als sie nach dem Masterstudium für ein Jahr nach Brighton zog und sich dort eher verloren fühlte. „Wir sind einmal zum Ikea gefahren, und ich habe den Eindruck, dass, wenn man sich in einer fragilen Lebenslage befindet, einen solche Konsumtempel beruhigen. Ikea ist für mich ein bisschen wie ein Vergnügungspark." - Monate danach ist sie bei einem Aufenthalt in Graz dann mit der Mutter eines Freundes wieder zu Ikea gefahren, um Fotos zu machen und Einstellungen festzuhalten, die sie später zeichnerisch in ihrem Comic umsetzte.
Residency in Seattle
Ebenfalls 2020 ist „They who eat alone" in einer Anthologie erschienen. Muchitsch befasst sich mit dem Internet-Phänomen des Mok-Bang, das darin besteht, dass sich Menschen beim Essen filmen bzw. ihre Mahlzeiten live ins Internet senden. „Mit einem Interesse an der Beobachtung der Einsamkeit und der Art und Weise, wie wir die Welt bewohnen und erleben, sind ihre Comics eine Liebeserklärung an Menschen, die im digitalen Zeitalter ihre eigenen Welten erschaffen", heißt es dazu passend auf Muchitschs Website.
Muchitschs aktuelles Work-in-Progress-Projekt "Property Management" greift eine Auswirkung des Brexit auf die englische Gesellschaft auf - die Verknappung des Wohnungsangebots durch gesteigerte Inlands-Immobilienspekulation in England. Mit diesem Projekt wurde Muchitsch 2021 zur Trailer Blaze Residency in Seattle, Washington, eingeladen. Die Residency wird von der Frauengruppe Short Run organisiert, die die Vernetzung von Frauen und Queer-Personen in der männlich dominierten Comic-Szene fördert. „Die Residency fand in einem Trailerpark statt, wo man sich 14 Tage auf seine Arbeit konzentrieren und mit anderen austauschen konnte", schwärmt die Zeichnerin von diesem Erlebnis, das ihr auch einen Besuch bei ihrem Lieblingsverlag Fantagraphics in Seattle ermöglichte. Irgendwann, so hofft Muchitsch, wird sie auch dort eine Graphic Novel in Langform veröffentlichen können.
Website von Veronika Muchitsch: https://veronikamuchitsch.com/
Werner Schandor
Stand: Juli 2023
Comic-Projekte von Veronika Muchitsch
Die Namensvetterin
Anmerkung: Zum ARTfaces-Porträt der gleichnamigen Musikerin und Musikwissenschaftlerin Veronika Muchitsch geht es unter diesem Link. Die beiden sind nicht verwandt.