Mit dem Blick hinter die Fassade
Aufgewachsen in der Terrassenhaussiedlung, erlebte die steirische Fotografin Julia Gaisbacher bereits in ihrer Kindheit, welchen maßgeblichen Einfluss Architektur auf das Miteinander hat – eine Erfahrung, die sich bis heute in ihrer Arbeit manifestiert.
Architektur formt nicht nur das Aussehen von Städten, sondern bestimmt auch, wie Menschen einander begegnen und wie ihr Zusammenleben auf engem Raum funktioniert - oder eben nicht. In ihrer Arbeit beschäftigt sich Julia Gaisbacher unter anderem mit diesen Aspekten und geht außerdem den Fragen nach, wer über den zur Verfügung stehenden urbanen Raum bestimmt und wie dieser trotz aller architektonischer Vorgaben von den Bewohner:innen individuell gestaltet wird.
Das Resultat ist ein konsequenter roter Faden, der sich durch alle Projekte Gaisbachers zieht und der sie mittlerweile über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht hat, obwohl die Fotografie am Anfang ihrer künstlerischen Tätigkeit eher eine Nebenrolle spielte. Nach einem Studium der Kunstgeschichte besuchte Gaisbacher die Ortweinschule, wo sie sich für den Zweig der Bildhauerei entschied. Die enge Zusammenarbeit mit den anderen Studierenden brachte sie der Fotografie näher, doch trotzdem - Gaisbacher blieb ihrer ursprünglichen Wahl treu und setzte das Bildhauereistudium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden fort. Auch dort fand sie sich in einer durch Interdisziplinarität geprägten Klasse wieder und vertiefte ihren Zugang zur Fotografie so weit, dass es zu ihrem künstlerischen Medium wurde.
Nicht nur hinschauen, sondern zuhören
In Gaisbachers Bildern wird das Haus nicht zum in Szene gesetzten Objekt, vielmehr fokussiert sie sich auf die Bewohner:innen und zeigt, wie sehr sich Architektur und ihre Nutzer:innen gegenseitig beeinflussen. Obwohl das Individuum dabei nur selten auf den Fotos zu sehen ist, ist seine Präsenz dennoch stark zu spüren. Das liegt unter anderem an den Gesprächen, die die steirische Fotografin mit den Menschen vor Ort führt. Diese gewähren ihr selbst, aber in weiterer Folge auch dem Betrachter der Bilder einen Einblick, der über die reine Objektebene hinausgeht. Für ihr seit 2017 laufendes Projekt "One Day You Will Miss Me", das sich mit der Errichtung eines neuen Stadtteils in Belgrad sowie dessen Einfluss auf das gesamte Stadtbild befasst, ließ sich die Fotografin von Einheimischen auf Spaziergänge mitnehmen. Das ermöglichte ihr laufend neue Perspektive auf die entstehenden Luxus-Wohntürme - und das nicht nur in visueller Hinsicht.
Mittlerweile sind die ersten Wohnungen des "Belgrade Waterfront" bezugsfertig, eine Chance, die sich Gaisbacher nicht entgehen ließ. In "Let the Game begin" schlüpft sie in die Rolle einer Bewohnerin und geht der Frage auf die Spur, wie die Sicht auf die Umgebung tatsächlich ist, abseits des von der Hochglanzwerbung suggerierten perfekten Luxus-Wohnerlebnisses. Begleitet wurde sie dabei 2021 von Barbi Marković, der aus Belgrad stammenden Wiener Schriftstellerin, die sie zu einer weiteren Sichtweise inspirierte. "Aus den Gesprächen mit Barbi, die sich zu diesem Zeitpunkt mit Videospielen beschäftigt hat, entstand die Idee, die künstliche Umwelt zu dokumentieren", erklärt Gaisbacher die Entwicklung einer Fotoserie, bei der sie vom Balkon aus unterschiedliche Ausschnitte einer Kreuzung fotografierte. Die grafisch anmutenden Bilder wirken fast surreal und verdeutlichen, wie konstruiert jene Welt ist, in der wir uns Tag für Tag bewegen.
Dem Traum vom Wohnen auf der Spur
Zu einem ihrer wichtigsten Werke zählt das Langzeitprojekt "My Dreamhouse is not a House", in dem sich Gaisbacher mit einem der ersten öffentlich geförderten sozialen Wohnbauprojekte Österreichs beschäftigt. Die in den 1970er Jahren von Eilfried Huth geplante Eschensiedlung in Deutschlandsberg zeichnete sich unter anderem durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Architekten und zukünftigen Bewohner:innen aus. Rund fünfzig Jahre später führte Julia Gaisbacher Interviews mit den Menschen, wobei sie herauszufinden versuchte, wie sich diese Art des Planungsprozesses auf die langfristige Lebensqualität auswirkte.
Mittlerweile entstanden aus der ursprünglichen Auftragsarbeit für die von Barbara Steiner kuratierte Ausstellung im Grazer Kunsthaus ein Dokumentarfilm mit dem Titel "My Dreamhouse is Daydreams" sowie ein Buch, das Gaisbacher internationale Anerkennung auf großen Fotofestivals sowie den Einzug auf die Shortlists wichtiger Fotobuchpreise einbrachte.
Den Blick gen Osten
Sowohl die Begeisterung für das Baumaterial Beton und die persönliche Verbindung zum Brutalismus als auch die derzeitigen Entwicklungen in dieser Gegend ziehen Julia Gaisbacher immer wieder nach Südosteuropa. So dokumentierte sie in Zagreb den geplanten Bau eines groß angelegten neuen Stadtteils und den Protest Zagreber Bürger:innen, der schlussendlich erfolgreich verlief. In "What Remains?!" macht sich Gaisbacher auf die Suche nach Antworten auf die Frage: Was passiert, wenn nichts passiert? Wie wird ein neu erkämpfter Raum genutzt, wenn die geplanten Veränderungen nicht eintreten? "Das Projekt erwies sich als schwierig", stellt sie fest, "denn es passierte nichts, was man in diesem Kontext erwarten würde. Als ich mit der Arbeit begann, stand fest, dass gebaut wird, dann gab es plötzlich diesen Stopp und schlussendlich wurde das Bauvorhaben abgebrochen. Ich ging davon aus, dass stattdessen neue Projekte umgesetzt werden, wie etwa Urban Gardening oder andere Zwischennutzungen, aber es passierte einfach gar nichts. Der Baugrund mit seiner großartigen brutalistischen Architektur, dem Hippodrom und dem Schwemmgebiet an der Save blieb unberührt." Diesen Stillstand betrachtet Gaisbacher als sehr bezeichnend für die Stadt und ihre aktuellen Probleme. So wird "What Remains?!" zusätzlich zu einem Dokument der politischen Situation Zagrebs.
Auch „Split 3", ein in den 1970er Jahren angelegter Stadtteil, ist Zeugnis abrupter Planänderungen und Baustopps. Viele Vorhaben wurden zwar realisiert, andere blieben jedoch aufgrund der politischen Veränderungen auf der Strecke - die Auswirkungen haben nicht nur Einfluss auf das Erscheinungsbild des Viertels, sondern auch auf seine Bewohner. Gaisbacher hält in "Mapping Split 3" die Architektur, Infrastruktur, das Leben sowie die Menschen des Viertels fest und zieht dabei Parallelen zur Terrassenhaussiedlung. Anders als am Ort ihrer Kindheit sind die Bereiche zwischen den Gebäuden in Split 3 kaum als Regenerationsanlagen nutzbar. Die ursprünglich verstaatlichten Flächen wurden den ehemaligen Besitzern rückübertragen, weswegen sie jetzt zum Teil brachliegen oder wurden zur Errichtung von Neubauten genutzt. "Das Problem ist, dass diese Gebäude nicht in den Siedlungsplan passen und beispielsweise Balkone verstellen. Außerdem gibt es viele informelle Parkplätze, weil die wachsende Anzahl an Autos bei der Planung natürlich nicht mitbedacht wurde", erläutert Gaisbacher die Probleme von Split 3. Im Zentrum des Projekts steht eine kleine Fläche, auf der im Jahr 2009 drei Bewohner 55 Bäume pflanzten, drei Bänke und eine Schaukel aufstellten, womit sie einen kleinen Park schufen. "Ich beschäftige mich in Split 3 mit den Fragen, wer das Recht hat, öffentlichen Raum zu nutzen, wie die Besitzverhältnisse verteilt sind und was passiert, wenn solche Strukturen aus irgendeinem Grund plötzlich zerfallen", so Gaisbacher.
Mit dem „Kunstraum Steiermark"-Stipendium zurück zu den Wurzeln
Im Gegensatz zu Split 3 ist die Terrassenhaussiedlung als Vorzeigeprojekt weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt - nicht nur wegen ihrer brutalistischen Architektur. Die im Jahr 1965 fertiggestellten Wohnbauten bieten eine Lebensqualität, die nicht nur in der steiermärkischen Landeshauptstadt vergeblich ihresgleichen sucht. Doch warum klappt hier so reibungslos, woran andere Siedlungen scheitern?
"Eine funktionierende Struktur mit einer Lebensqualität, wie es sie in der Terrassenhaussiedlung gibt, ist meiner Meinung nach nicht nur das Werk eines Architekten", glaubt Gaisbacher. "Sie entsteht vor allem durch den festen Zusammenhalt. Man kümmert und organisiert sich hier, schaut gemeinsam auf die Allgemeinflächen. Das ist es, was die Terrassenhaussiedlung ausmacht."
Anknüpfend an ihr bereits abgeschlossenes Projekt "Das Fest" möchte sich Gaisbacher im Zuge ihres Stipendiums jetzt noch eingehender mit dem Ort ihrer Kindheit beschäftigen und dabei den Blick nicht auf die äußeren Formen beschränken. Wie auch in all ihren anderen Arbeiten sollen die Menschen, die diesen Ort zu dem machen, was er ist, sichtbar gemacht werden. Ein Vorhaben, das sie in den kommenden zwei Jahren umsetzen möchte und auf dessen Ergebnisse man gespannt warten kann.
Hier geht es zur Website von Julia Gaisbacher.
Anna Lisa Kiesel
August 2023