Kunst an unerwarteten Orten
Claudia Ahlering ist Grafikerin, Illustratorin, Glasmalerin – aber vor allem Malerin. 2020 hat sich die deutsche Künstlerin in der Obersteiermark niedergelassen.
Die Hinweise darauf, dass am Bio-Bauernhof Haidacher am Mitterberg bei Gröbming seit wenigen Jahren eine Künstlerin von internationalem Zuschnitt lebt, sind dezent: Ein kleinformatiges Ölbild steht beim Milchautomaten, darauf sind zwei Pferde auf der Weide vor einem Wald zu sehen; und eine in Blei gefasste Schmuckverglasung, die das Gartentor zum Wohnhaus flankiert, weist auf die „Glasmalerei Gamsjäger" hin. 2020 hat die Künstlerin Claudia Ahlering ihre neue Heimat im obersteirischen Ennstal gefunden. 2019 war sie von Hamburg nach Tirol gezogen, um als Rezeptionistin in einem Kunsthotel zu arbeiten. In Tirol hat sie dann ihren jetzigen Mann, einen Landwirt, kennengelernt. Die Corona-Lockdowns haben den Prozess des Zusammenziehens beschleunigt.
Eine Stadtpflanze?
Wer sich den Lebenslauf von Ahlering anschaut, mag sich wundern: Kunststudium an der Fachhochschule Hannover Anfang der 1990er, danach eine Ausbildung zur Glas- und Porzellanmalerin, gefolgt von Illustrations-Studien an der FH für Gestaltung in Münster und an der Hochschule der Angewandten Künste (HAW) in Hamburg. Und zum Ausklang der Lehrjahre ein Postgraduiertenaufenthalt an der École des Beaux Art, der nationalen Kunstakademie in Paris anno 2004/05 samt Ausstellungen in Hamburg, London und Tokio. Das alles klingt nach Stadtpflanze. Wie passt das zu einem Leben auf dem Biobauernhof?
Die Künstlerin winkt ab. „Ich bin in einem kleinen Ort in Niedersachsen auf einem Bauernhof aufgewachsen, den jetzt mein Bruder führt. Für mich ist die Landwirtschaft nichts Neues." - Neu sind für sie lediglich die Berge rund um die Landwirtschaft. Und der urige Dialekt der Einheimischen, an den sie sich noch nicht ganz gewöhnt hat.
Zurück zur Glaskunst
Ahlering führt uns in ihr Atelier, einen neu errichteten Anbau aus Holz hinter dem Gerätestadel des Bauernhofs. Die Fenster sind zu den Gröbminger Hausbergen Stoderzinken und Kammspitze hin ausgerichtet. Auf einer Ablage stapeln sich die Ölbilder und Zeichnungen, die sie aus Hamburg mitgebracht hat. Große, färbige Antikglas-Platten lehnen an einem Tisch. „Die stammen aus Bayern. Ich hätte mir nie gedacht, dass ich die Möglichkeit bekomme, wieder mit Glas zu arbeiten", sagt sie. Denn nach ihrem Umzug hat sie zunächst einige Glasfenster gestaltet, u. a. für die hofeigene Kapelle, die am Grundstück zum Andenken an den Schwiegervater errichtet wurde.
Auch wenn sie Anfragen nach künstlerischen Glasfenstern nicht ablehnen würde und auf ihrem alten VW Polo das Logo der „Glasmalerei Gamsjäger" (so ihr nach der Heirat angenommener neuer Familienname) angebracht ist, schlägt ihr künstlerisches Herz eindeutig für die Malerei, während sie dem Zeichnen und der Illustration eher den Rücken zugekehrt hat.
Profilierte Zeichnerin
Dabei ist es die Grafik, in der sich Ahlering bisher am stärksten profilieren konnte. 2004 initiierte sie in Hamburg das Zeichnerinnen-Kollektiv „Spring", das bald auch eine jährliche Anthologie für internationale weibliche Positionen in der Grafik herauszugeben begann. Das Magazin existiert bis heute. Ahlerings eigene Zeichnungen, die in den ersten Ausgaben erschienen, spiegeln surreale Bildwelten wider: Da schweben zum Beispiel kugelförmig aufgeblasene Rehe an Seilen wie Ballons in der Luft; auf einem anderen Bild wird der pfützenhafte Umriss eines Mädchens von Regentropfen durchlöchert; und auf wieder einem anderen kauert eine Frau eng umschlungen mit einem Mann in einem Käfig und spuckt Eier auf ein vorbeiziehendes Laufband. Alles in allem sind das keine Motive, die man so ohne weiteres in einer einfachen Aussage auflösen könnte. „Das Zeichnen, das einen starken Ausdruck verfolgt und rein fiktiv ist, eine eigene Welt entwirft, ist wahrscheinlich ein tiefverborgenes Bedürfnis von mir, das ich mit Arbeit weiterentwickelt habe", sagt sie in einem Gespräch, das sie mit ihrer Lehrerin Anke Feuchtenberger führte. Abgedruckt ist der Dialog in einem 2008 erschienen Werkkatalog von Ahlering.
Erfolgreiche Illustratorin
Aber auch als Illustratorin konnte die Hamburgerin einige Erfolge verbuchen. Sie schuf Aquarelle, Zeichnungen und Collagen für Zeitschriften wie „Psychologie heute" oder den „Kultur Spiegel". Und sie illustrierte drei Graphic Novels, die sich erfolgreich am Markt behaupten, und die Einladungen zu Zeichenfestivals rund um den Globus nach sich zogen. Die Texte zu den Büchern steuerte der in New York lebenden Autor Julian Voloj bei. Den Auftakt machte „Ghetto Brother" (2015); das Buch ist auch auf Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch erschienen und wird in Deutschland im Schulunterricht eingesetzt. 2017 erschien „Die Judenbuche" nach Annette Droste-Hülshoff und im Pandemie-Jahr 2021 schließlich „Marlene Dietrich: Ein Leben". Die Illustrationen für das Dietrich-Buch sind zum Teil bereits in der Steiermark entstanden.
Doch von der Grafik und der Illustration hat sich Ahlering mittlerweile entfernt. Ebenso wie von etlichen ehemaligen Mitstreiterinnen und Künstlerkollegen, von denen sie wegen abweichender politischer Ansichten gecancelt wurde, was ihr, wenn sie darüber spricht, spürbar nahegeht.
Beeindruckende Porträts
Geblieben ist die Malerei. Jahrelang hat Ahlering Porträts gemalt: Menschen aus ihrem Umfeld, Künstlerinnen und Künstler, mit denen sie in Hamburg, Paris und Berlin zu tun hatte, aber auch Familien, die bei ihr Porträts in Öl in Auftrag gaben. Manchmal sind auf diesen Bildern Details vergrößert dargestellt - etwa das Haustier, ein Chinchilla, auf einem der Familienporträts -, so dass sich beim Betrachten unmittelbar Irritation einstellt. Manchmal sind die Irritationen auch offen versteckt und zeigen sich erst bei längerer Betrachtung, wie der getupfte Oktopus, der aus dem Suppentopf ragt, im Porträt der Familie Basil (2008). Die Menschen auf Ahlerings Bildern blicken überwiegend ernst bis skeptisch drein, und es mag einem dazu die Songzeile „The future is uncertain" von Bob Dylan einfallen („Love Minus Zero") oder aber auch der Titel des soziologischen Klassikers „Das erschöpfte Selbst" (Alain Ehrenberg, 2008). Vielleicht aber spricht auch bloß nordische Kühle aus den beeindruckenden Bildern.
Claudia Ahlering gibt zu ihren surrealen Bildelementen keine Erklärungen ab. Sie malt, wie sie die Dinge bzw. die Menschen sieht. Den Rest erledigt die malerische Technik. Beim Farbauftrag, in dem sich Komplementärfarben in die Hauttöne mischen, nimmt sie Anleihen bei großen Realisten des 20. Jahrhunderts, wie dem US-Amerikaner Andrew Wyeth oder dem Briten Lucian Freud. „Die Farben und die Pinselstriche ergeben eine eigene Schönheit, egal was man macht", sagt die Malerin im schon zitierten Gespräch mit Anke Feuchtenberger. „Sie ergeben eine Sprache, ein Zusammenspiel. Es ist etwas sinnlicher und hat weniger Härte wie beim Zeichnen, glaube ich."
„The future is uncertain"
Wohin die künstlerische Reise bei Claudia Ahlering weitergeht, scheint offen zu sein. Das Bergpanorama vor ihrem Fenster, das sie auf eine kleine Leinwand gebannt hat, wirkt so postkartenmäßig, dass es selbst der Künstlerin anscheinend zu viel geworden ist. Sie hat spitze, weiße Dreiecke über das Panorama gemalt, die sich wie transparente Schnitte über das Bild legen - unschlüssig, ob selbst für sie als Verfechterin des Realismus so viel Naturabbild auf Leinwand zulässig sein kann.
Es gibt angefangene Porträtserien, die der Fortführung harren, und es gibt Serien, die fortgeführt werden - etwa die weiblichen Hinterkopf-Porträts in Öl. Und zusätzlich gibt es die Kunst an unerwarteter Stelle: die Bilder beim Milchautomaten - etwa das Porträt eines schwarzen Schafes oder das eingangs erwähnte Pferdebild. Diese Miniaturen gehen ihr mit größter Leichtigkeit von der Hand. Es bleibt zu hoffen, dass sich bald wieder Auftraggeber für ihre meisterhaften Porträts und erstklassigen Illustrationen bei Claudia Ahlering einstellen.
Weitere Infos: http://www.claudiaahlering.de
Werner Schandor
August 2023