Wahrnehmung, Wirklichkeit und mediale Transformation
In seinen Arbeiten thematisiert der Medienkünstler Joerg Auzinger gesellschaftspolitische Aspekte der technikbasierten Kommunikationsgesellschaft. Mit interaktiven Videoinstallationen und Fotografie untersucht er Informations- und Wirklichkeitsgehalt bildgebender Medien.
Man ist an Marshall McLuhans These erinnert, nach der wir zuerst unsere Werkzeuge (respektive Medien) formen, in der Folge aber formen diese unsere Physiognomie (freilich auch unsere Mentalität). Oder deutlicher, und am Beispiel von Joerg Auzingers rezentem Projekt Die Gesten des Reisens (I Gesti del Viaggio) dargestellt: Personen, die Auzinger als Reisende erkennt, belegen ihre Anwesenheit mittels Fotografien auf dem Smartphone, wobei anzunehmen ist, dass solche Schnappschüsse auch gleich an soziale Medien weitergeleitet werden. Nach Auzingers Intention ist allerdings die für unsere Zeit inzwischen typische Haltung relevant, die die Menschen beim Fotografieren mit dem Handy einnehmen. Dass die Körperhaltungen der abgebildeten Personen in dieser Fotostrecke wie inszeniert erscheinen, bedingt das zugrunde liegenden Konzept. Das bildgebende Medium, das die Haltung der Personen bestimmt, wurde mittels künstlicher Intelligenz aus Auzingers Fotografien entfernt. Was für den Autor - und gleichermaßen für die Abgebildeten, Fotografierenden - gilt, entspricht einer Überlegung des Medienphilosophen Vilém Flusser, die Auzinger in seinem Portfolio zum Projekt anführt: „Der Fotograf kann nicht anders, als die Situation zu manipulieren, seine bloße Anwesenheit ist eine Manipulation. Und er kann nicht vermeiden, durch die Situation modifiziert zu werden, die bloße Tatsache, sich darin zu befinden, hat ihn verändert." (Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Frankfurt a.M. 1994 (1991), S. 115.)
Ein Atelierstipendium des Landes Steiermark führte den Medienkünstler Joerg Auzinger in diesem Jahr für neun Wochen nach Triest. Hier entwickelte er einen Zyklus, bestehend aus vier Werkserien, die Wahrnehmung, Selbstwahrnehmung beziehungsweise den Wirklichkeitsgehalt bildgebender Medien zum Inhalt haben. Wie zur Erinnerung wurde die Serie Die Gesten des Reisens auch auf Postkarten reproduziert, dem historischen Korrespondenzmittel, das inzwischen von kommentierten Handyfotos in den sozialen Medien weitgehend abgelöst wurde.
Wirklichkeit und Schein in Überschneidung
Die interaktive Videoinstallation CanalGrande dagegen hat den wohl meistfotografierten Ort im alten Handelszentrum zum Inhalt. Im Video ist zunächst der Blick über den Kanal auf die Fassade der Kirche Sant'Antonio Nuovo nachzuvollziehen. Tritt man nun in den Bereich der Projektion, fahren plötzlich LKW und Busse vor die Szene und verstellen die Sicht. Nur deren Fensterscheiben erlauben kurze Durchblicke auf den Hintergrund, während Betrachter sich zugleich in den Scheiben gespiegelt sehen. Methodisch und inhaltlich ist CanalGrande eine Fortsetzung und Weiterentwicklung früherer Installationen wie etwa Blind Spot: Die Beobachtung des Beobachters. In einer Doppelprojektion aus zwei Szenen von Alfred Hitchcocks Das Fenster zum Hof sehen sich Betrachter, in bewegten Bildern, im Objektiv des Filmprotagonisten frontal gespiegelt. Gleichzeitig erscheinen sie - auf der gegenüberliegenden Projektion - in Rückenansicht im beobachteten Fenster des Spielfilms. Wie in CanalGrande überschneiden einander Wirklichkeit und Schein gleichermaßen wie die Zeitlosigkeit der Filminhalte und der Augenblick der Rezeption.
Der heute in Wien und in der Steiermark lebende Joerg Auzinger wurde 1972 in Linz geboren. Bis 1992 absolvierte er bei Richard Kriesche und Branko Lenart die Ausbildung für Fotografie und Audiovisuelle Medien an der Grazer HTBLVA Ortweinschule, gefolgt vom Studium der Filmregie bei Axel Corti an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Wien. 1997 war Auzinger Mitbegründer des in Graz ansässigen Kunstvereins support. Ein Studium der Medienkunst belegte er zwischen 1994 und 2002 bei Peter Weibel an der Universität für Angewandte Kunst. Auzinger war auch Lehrbeauftragter an der Grazer Ortweinschule (Fotografie und Medienkunst) und unterhielt eine Gastprofessur an der Universität für Angewandte Kunst in Wien (Expanded Photography).
Verweise auf die Kulturgeschichte
Als seit 1992 Freischaffender, thematisiert Joerg Auzinger in seinen Arbeiten gesellschaftspolitische Aspekte der technikbasierten Kommunikationsgesellschaft, wobei immer wieder Verweise auf die Kulturgeschichte einfließen. Vor allem sind es seine interaktiven Installationen, die - wie analytische Instrumente in einer Art Rückkoppelung - Rezipientinnen und Rezipienten ihr eigenes Wahrnehmungsverhalten vor Augen führen. Gleichermaßen demonstriert sind damit auch die durchwegs problematischen Aspekte der medialen Vermittlung von Wirklichkeit durch die uns umgebenden Informationsmedien, deren Funktionalität kritisch und sozusagen angewandt hinterfragt werden. Ein Sprachspiel - und damit im mehrfachen Sinn zu interpretieren - im Titel einer interaktiven Installation beispielsweise lässt Be- und Erleuchtung, wenn nicht Erkenntnis assoziieren. Switch Enlightement ist zunächst die Aufforderung an Besucher, einen Lichtschalter im Ausstellungsraum zu betätigen. In einer Videoprojektion ist eine Szene aus François Truffauts Film Fahrenheit 451 zu sehen, in der der Protagonist (dargestellt von Oskar Werner) verbotenerweise in einem Buch liest. In Auzingers Version der Szene (und in der Projektion) dient dem Lesenden ein heute gebräuchliches Fernsehgerät (auf dem Bildschirm weißes Rauschen) als Lichtquelle gleich einer Leselampe. Durch Betätigen des physischen Schalters im Ausstellungsraum kann der Fernseher in der Projektion abgeschaltet werden. Die Szene erscheint nun verdunkelt, womit nun Besucher scheinbar Einfluss auf die Lesbarkeit, wenn nicht das Erfassen im erweiterten Sinn, des Textes im Buch nehmen.
Kanäle der Medienindustrie
Zurück zu den in Triest entstandenen Arbeiten. Abgesehen von der Örtlichkeit in Triest ist der Titel CanalGrande nach Auzingers Konzept auch als Verweis auf die Kanäle der Medienindustrie und speziell auf die sozialen Medien zu lesen. Den Handyfotos der Touristen, die (wohin?) gesendet werden, um Anwesenheit zu gewisser Zeit an gewissen Orten zu belegen, die vielleicht Aufmerksamkeit der Empfänger bewirken sollen, stellt Auzinger seine Fotoserie CanalGrande II gegenüber. Bilder abseits touristischer Interessen wurden aufgenommen und teils als großformatige Reproduktionen an Orten affichiert, die wiederum von Touristen frequentiert werden. Beziehungsweise erläutert der Autor bewusst nicht, wie weit die Bilder manipuliert sind und als digitale Montagen nur vorgeben (Bild im Bild), einer von Auzinger so wahrgenommenen Situation zu entsprechen.
Ähnlich eine Serie von Fotografien mit dem Titel Destinesia (The Trieste Files). Destinesia ist ein inzwischen in mehreren Städten ausgeführtes Langzeitprojekt, mit dem auch in Triest medial Wiedergegebenes zwischen Dokumentation und Fiktion changiert. Ganz im Sinn des philosophischen Konstruktivismus - was wird als Wirklichkeit interpretiert, wenn jegliche Wahrnehmung nicht anders als subjektiv erfolgen kann? - verhandelt Joerg Auzinger mit seinen künstlerischen Werken im Grunde das Problem, dass Wirklichkeit für jedes Individuum immer eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung darstellt.
Wenzel Mraček
Oktober 2023