Improvisation hinaustragen
„Das friedenstiftende Potential der Improvisation kann sich entfalten, weil Menschen dadurch zu sich selbst einen unmittelbaren Kontakt herstellen können.“ – Annette Giesriegl, Vokalistin und Sängerin, Pädagogin und Ensembleleiterin sieht in der Besinnung auf sich selbst die größte Chance für ein Miteinander.
Geboren und aufgewachsen in Thaur bei Innsbruck, ist Annette eine beeindruckende Vokalistin und fester Bestandteil der österreichischen Improvisationsszene. Ihre musikalische Reise begann in jungen Jahren, stark beeinflusst durch ihre Familie. Bereits mit zehn Jahren begann sie Klavier zu spielen und zeigte früh ein Talent für Komposition und Gesang. Mit 17 erhielt sie eine klassische Stimmbildung am Konservatorium Innsbruck und studierte dort vier Jahre lang. Parallel dazu lernte sie Saxophon und verfolgte ein Studium der Pädagogik und Politikwissenschaften.
Giesriegls Interesse an der Improvisation und der Nutzung der Stimme als Instrument wurde durch KünstlerInnen wie Lauren Newton und das Vienna Art Orchestra sowie durch den Scat-Gesang Ella Fitzgeralds inspiriert. Diese KünstlerInnen eröffneten ihr neue Möglichkeiten und Techniken, die sie in ihre eigene Arbeit integrierte. Ihre frühe Karriere war geprägt von ihrer Teilnahme an politischen Demonstrationen, bei denen sie oft musikalisch aktiv war, und ihrer Einbindung in die avantgardistische Musikszene, insbesondere das Veranstaltungslokal „Utopia" in Innsbruck. Diese Erfahrungen prägten ihre spätere Arbeit in verschiedenen Bands und Projekten mit einem Fokus auf improvisatorische Musik.
Pionierin mit Diplom im Jazzgesang
Ein entscheidender Wendepunkt war ein Workshop mit Jay Clayton, der sie nach Graz führte. Hier setzte sie ihr Studium am renommierten Jazz-Department der Kunstuniversität Graz (KUG) fort und war Teil der ersten Generation von Jazzgesangs-StudentInnen. 1997 erhielt sie als dritte Jazzsängerin in Österreich das künstlerische Diplom und als erste in Österreich die Lehrbefähigung für Jazzgesang. Während dieser Zeit musizierte sie mit Reni Hofmüller und arbeitete mit der Band „Wibschma", zusammen mit Elisabeth Harnik, Jagoda Markovic und Anneliese Schneider.
Nach dem Studienabschluss unterrichtete Giesriegl an der Musikschule Weiz. Ihre künstlerische Karriere vertiefte sie nach einem Aufenthalt in London im Jahr 2002, wo sie intensiv mit der internationalen Improvisationsszene und dem indischen Gesang am Institute for Indian Arts and Culture in Kontakt kam. Diese Zeit war geprägt von Kollaborationen mit KünstlerInnen wie Maggie Nichols, dem London Improvisers Orchestra und dem Pianisten Veryan Weston. Daraus ergaben sich spannende Projekte wie „Primal Fruit Cake" , der „Vociferous Choir" und diverse Fusion-Konzerte (mit den österreichischen Kollegen Franz Schmuck und Stefan Heckel). 2003 veröffentlichte Giesriegl mit dem „Annett4tett" das Jazzalbum „Hear I Am" und begann eine intensive Konzerttätigkeit in Europa. Die Band bestand aus Stefan Heckel am Klavier, Karl Sayer am Kontrabass und Ingrid Oberkanins an den Percussions. Diese Konstellation ermöglichte es Giesriegl, ihre Vision von improvisierter Musik im Jazzkontext zu verwirklichen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Ihre Arbeit mit dem Perkussionisten und Sänger Franz Schmuck führte 2006 zur CD „Vocal Chordestra: Free Ethno", die exotische Vokaltechniken mit Elektronik und Perkussion kombinierte. Gemeinsam mit dem Autor dieser Zeilen (Denovaire) entstanden die Bühnenwerke „Grand Vizier's Chest" (2011-13) und die Kammeroper „und Mücken sind Kernobst" (2013) mit einem Libretto von Fiston Mwanza Mujila. 2023 wirkte Annette Giesriegl in Denovaires Cyberpunk-Oper „Transcendence" mit.
Mitbegründerin des Styrian Improvisers Orchestra
Seit 2006 unterrichtet Giesriegl als Senior Lecturer an der KUG und vermittelt Techniken der Körperarbeit, Bühnenpräsenz, musikalischen Kommunikation und Improvisation. Ihre pädagogische Arbeit ist tief mit ihrer künstlerischen Praxis verbunden und spiegelt ihren ganzheitlichen Ansatz wider. Sie betont die Bedeutung der Präsenz und der Verbindung zwischen Körper und Stimme, um authentische musikalische Ausdrucksformen zu schaffen.
Das Herzensprojekt Styrian Improvisers Orchestra (STIO) gründete sie 2012 mit den Grazer Fixsternen Seppo Gründler und Josef Klammer. Das durch dirigentische Handzeichen geleitete STIO hat sich bald zu einem professionellen Ensemble entwickelt und bietet eine generationenübergreifende Plattform für ImprovisationskünstlerInnen. Dieses Orchester, mit MusikerInnen aus der improvisierten Musik- und der Jazzszene, aber auch der modernen akademischen Szene spielt eine zentrale Rolle in der steirischen Musiklandschaft und zieht internationales Interesse auf sich. Die Homebase des STIO ist das Grazer Café Stockwerk, aber das Orchester tritt auch regelmäßig im In- und Ausland auf. Oft werden renommierte Gäste eingeladen, darunter Maggie Nichols, Charlotte Hug, Michael Fischer, Renee Baker und Steve Swell. Das STIO fördert auch genreübergreifende Kollaborationen mit Theater, Tanz, Film und Literatur.
Neben ihrer Tätigkeit im STIO ist Giesriegl in verschiedenen internationalen Projekten aktiv, wie dem „Barcode Quartet" und dem „Trio Anjali" (Elisabeth Harnik, Klavier, und Jasna Joviċeviċ, Saxophon). Diese Projekte haben sie unter anderem nach Brasilien und Australien geführt und dienen als Plattformen, live und unmittelbar zu agieren und zu experimentieren.
Giesriegl setzt sich leidenschaftlich für die Vermittlung frei improvisierter Musik ein und ist Co-Organisatorin des Grazer Improfestes, das eine Bühne für interdisziplinäre und kreative Zusammenkünfte bietet. Hier, wie auch im Format des „Gathering", geht es zentral um die Improvisation als Mittel zum Selbstausdruck und als soziale Praxis, die Menschen zusammenbringt und ein unmittelbares Erlebnis von Kreativität und Gemeinschaft ermöglicht. Annette sieht in der Improvisation nicht nur eine musikalische Technik, sondern eine Lebensphilosophie, die einen direkten Kontakt mit sich selbst und anderen herstellt.
In Zukunft plant Giesriegl, ihre Arbeit mit dem „Trio Anjali" fortzusetzen und weiterhin frei improvisierte Musik zu vermitteln. Sie möchte das Potential der Improvisation noch sichtbarer machen und zugänglich für ein breites Publikum gestalten. In Zeiten, wo der Wunsch nach fertigen Rezepten und Lösungen vielerorts überhandnimmt, stellt sie sich dem entgegen, denn Freude und Authentizität finden ihren Ursprung im freien Spiel, im kindlichen Experimentieren, in der Unbeschwertheit und dem Sein-Lassen des Wollens. Om shanti, Annette, und danke für deine Musik.
Weitere Info: www.annettegiesriegl.at
denovaire
Mai 2024