Zweifel sind ein Grund zu schreiben
Die Südtirolerin Nadia Rungger nähert sich der Welt über Lyrik und Prosa an, die Intuition ist ihr dabei ein wichtiges Werkzeug. 2024 erhielt sie das LICHTUNGEN-Lyrik-Stipendium zugesprochen.
Es scheint etwas Inniges zu sein, wenn Nadia Rungger reflektiert von ihrem Schreiben erzählt. Sie findet außergewöhnlich klare Worte, mit denen sie die Ideen, die Beschäftigung mit Sprache, das Prozesshafte und auch die literarischen Ergebnisse er- und begründet. Zudem setzt sie sich über Preise und Stipendien bewusst einem Feedback aus und holt eine Bewertung ab. Für ihren ersten Text in der dritten Mittelschulstufe „Mit einem Lachen" war nicht die Bestnote die entscheidende Motivation weiterzuschreiben, sondern das Geständnis der Lehrerin, diese Geschichte ihren Kindern als Gute-Nacht-Geschichte immer wieder vorzulesen. Für Nadia Rungger bedeutete das, mit ihren Erzählungen anderen eine Freude zu bereiten: „Meine Texte sind es wert, gelesen zu werden." So ging sie ihren Weg weiter, Schritt für Schritt, von Preis zu Preis. Sie beschrieb, was sie erlebte oder womit sie sich beschäftigte: „Es kam von mir heraus, was mir nahe war."
2017 gewann sie bei den Bozner Autorentagen den ersten Preis in der Sparte Lyrik. Sie erinnert sich, dass ihre ersten Gedichte vorsichtige Anfänge waren, gebunden an Strukturen inklusive einem Reimschema. Davon hat sie sich im Laufe der Jahre gelöst und auch von anderen Strukturen. In ihrem reflektierten Denken war auch ein großer Platz für Zweifel. „Die Zweifel, die ich zuerst als Schwäche wahrgenommen habe, sind mit ein Grund für mich zu schreiben."
Wie sie ihren kreativen Prozess beschreibt? Viel Intuition und Spontaneität, Vertrauen und Offensein. Beim Gehen, Wandern oder Unterwegs-sein, passieren die Gedichte, sie entstehen im Moment. Wörter formen sich, und alles, was im Gedächtnis bleibt, ist dann das Gedicht. Nadia Rungger schreibt es zu Hause nieder, überarbeitet wird kaum etwas. „Die Stärke liegt in der zugelassenen Intuition." 2020 schrieb sie zum Beispiel in zwei Tagen neun Gedichte, die sich mit kleinen Gegenständen beschäftigten wie etwa einem Haselnussstrauch, einem Klavier, einem Handtuch. Sie habe in den Monaten davor wenig geschrieben, die Gedichte seien in ihr gewachsen und in diesen zwei Tagen an die Oberfläche gekommen. Das Schreiben ist ein Teil von ihr, und beim Nachdenken über einen Schreibrhythmus, was die beste Art sei, sich dem Schreiben zu nähern, ist ihr auch bewusst, dass es wichtig ist, dem Moment zu vertrauen.
Für den Preis zum Irseer Pegasus 2024 reichte sie den Text „Neues", den sie, in einer kleinen Schrift auf A4 ausgedruckt, lange Zeit mit sich herumtrug, mit einer starken Nachwirkung in einer nicht identifizierbaren Stimmung mehrmals durchlas, um ihn zu verstehen, und doch kein Bedürfnis hatte, an dem Text nachzuarbeiten. Das Besondere an der Organisation und Struktur des Irseer Pegasus ist, dass sowohl die Autor*innen als auch die Jury die Texte diskutieren und bewerten. Nadia Rungger gewann schlussendlich den Preis der Jury. In der Diskussion um ihren Text fand sich die Autorin wieder, sie fand dem eigenen Text gegenüber ihre Balance, denn auch in der Diskussion kippte er nicht in eine Richtung, sondern blieb in der Schwebe. Ihr Text war sehr schlicht, ohne Effekte und Kapriolen. Nadia Rungger fühlt sich in dieser Art zu schreiben sehr wohl.
Ein anderes Beispiel für Runggers Vertrauen in den Moment ist ihr Text „Ist das Tempo auch recht?", der 2019 im Magazin „schreibkraft" erstabgedruckt wurde: Er erzählt aus der Ich-Perspektive vom Weg zur Uni auf dem Fahrrad, wo das Ich einem Radler vor ihr stets auf den Fersen ist. Bei einer roten Ampel dreht sich der fremde Radler zur Verfolgerin um und fragt: „Ist das Tempo auch recht?" - so als wäre er ihr Schrittmacher. Dann trennen sich die Wege der Zufallsbekannten. Entstanden ist der Text in einem Hui im Rahmen einer kreativen Schreibsession an der Grazer Uni, an der Nadia Rungger Germanistik studierte. Mit der Grazer Literaturszene ist Rungger seit dem Studium mehrfach verbunden - sowohl über die Zeitschriften "Lichtungen" und „schreibkraft" als auch über das Literaturbüro „Blättern" von Lisa Schantl und Lisa Höllebauer und über den Literaturwettbewerb „Wir sind lesenswert".
2020 erschien Runggers erstes Buch „Das Blatt mit den Lösungen" im Südtiroler Verlag A. Weger, der Band versammelte Prosa und Lyrik. Nun will sie an einem reinen Lyrikband arbeiten. Mit dem LICHTUNGEN-Lyrik-Stipendium hat sie nun die Zeit dazu und viel Freude und Motivation. Ihre Gedichte sind bislang einzeln erschienen, daher möchte sie ein Manuskript zusammenstellen.
Schreiben oder arbeiten? Oder schreiben und arbeiten? Gerade unterrichtet sie an einer Oberschule, einem Kunstlyzeum, „Kreatives Schreiben". Nadia Rungger schreibt nicht nur auf Deutsch, sondern auch in ihrer zweiten Muttersprache Ladinisch, was sie als Bereicherung empfindet. Dadurch kann sie Sprache spielen lassen, spürt eine eigene Flexibilität und Weichheit den beiden Sprachen gegenüber. „Das Schreiben bleibt für mich immer an erster Stelle".
Kurzbio Nadia Rungger
Geboren 1998 in Gröden/Südtirol, wo sie auch lebt. Sie studierte Germanistik an der Universität Graz und Angewandte Linguistik in Brixen. Sie veröffentlichte u. a. in der „schreibkraft" und in den „Lichtungen" und hat bereits zahlreiche Preise und Stipendien für ihre deutsch- und ladinischsprachige Lyrik und Prosa bekommen.
Petra Sieder-Grabner
Oktober 2024