Wahrnehmungstore durch Wiederholungen öffnen
Gespräch mit Bodo Hell anlässlich der Zuerkennung des Literaturpreises des Landes Steiermark 2024
Wir trafen uns im Café Kaiserfeld in Graz im Mai 2024. Nur wenige Wochen später ging Bodo Hell wieder auf seine Grafenbergalm auf der steirischen Seite des Dachsteins, wo er seit Jahrzehnten den Sommer als Senner verbringt.
Anfang August 2024 ist Bodo Hell ebendort auf seiner Alm im Dachsteingebiet, wo er nach seinen Tieren sehen wollte, verschwunden. Alle Suchaktionen blieben ergebnislos.
Das Interviewgespräch dauerte Stunden, denn Bodo Hell ist ein flinker, wendiger Gesprächspartner, der Gedanken zuerst in Unendlichkeiten verknüpft, um sie dann fröhlich und heiter zum Verständnis aller wieder aufzudröseln.
Was war deine erste Reaktion, als du davon erfahren hast, dass du den diesjährigen Literaturpreis des Landes Steiermark bekommst?
Ich bin kein Steirer, obwohl: Ich bin seit 46 Jahren auf der steirischen Seite des Dachsteins, und ich habe auch einen steirischen Verlag. Und es gibt eine Dauerbeschäftigung mit der Steiermark.
Wofür, aus deiner Sicht, hast du diesen Preis erhalten?
Weil es ein paar Leute gibt, die diese Art Literatur schätzen, die trotz Datensättigung mich lesen und die formale und ungewöhnliche Seite zu schätzen wissen und die vor allem vor der Kaskade der Wörter nicht zurückschrecken. Witzig ist es auch, den Literaturpreis zu bekommen.
Was bedeuten Preise generell für dich? Hintergrund für diese Frage ist deine Liste an Auszeichnungen, die mit dem Rauriser Literaturpreis 1972 beginnt.
Dieses Ereignis war lebensentscheidend für mich. - Ich habe damals viele Autorinnen und Autoren kennengelernt und gesehen, dass man von der Literatur leben kann. Es begründete die Existenz des Schreibens.
Welchen Stellenwert haben Preise und Auszeichnungen generell im Bereich Literatur?
Es macht eine genaue Beschäftigung mit dem Werk des Preisträger-Namensgebers sichtbar. Die Schweizer Kollegen strahlen hier etwas anderes aus. Es bleibt bei vagen Begriffen.
Hier folgt ein Exkurs über Heimrad Bäcker und Strategien der konkreten Poesie und Reinhard Priessnitz, den Theoretiker mit Bezug zur Wiener Gruppe, der in Heimrad Bäckers Verlag seine "44 Gedichte" veröffentlichte. Auch Frederike Mayröcker im Austausch mit Ernst Jandl waren Vorbilder für Hell. "Denn sie arbeiten in den Text hinein."
Du wirst als „faktenorientierter" Autor bezeichnet, schreibst gleichzeitig differenziert und experimentell. Wie würdest du dich selbst als Schriftsteller beschreiben?
Ich probiere immer Neues aus, basierend auf gründlichen Studien. Meine Literatur besteht aus Literatur, ist ein Reflex auf meine sprachliche Äußerung. Ich nehme hier Bezug auf Karl von Ligne, der von H. C. Artmann übersetzt wurde. Beispiele sind auch Legenden, die einen wahren Kern haben: zum Beispiel der Siebenschläfertag am 27. Juni, der kalendarisch gedeutet das Wetter des Sommers bestimmen soll. Gleichzeitig beschreibt er auch sieben Menschen, die an diesem Tag eingemauert wurden, und auch die Siebenschläfer in den Höhlen und Gebirgszügen des Grimmingtals. Mit diesen Annahmen verrückt die Zeit: Die Jahreszeiten auf der Alm verdoppeln sich.
Deine Werke sind ganz unterschiedlicher Natur, mit Betonung auf Natur. Ich ziele hier auf das Buch „Begabte Bäume" (2023) ab. Wie viel Bildung und wie viel Literatur stecken dahinter?
Jahrelange Beobachtungen von Zirbenpersönlichkeiten gehen dem Buch voraus. Und auch sehr viel Recherche in der Antike: Ein Beispiel sind giftige Eibenpfeile, die verwendet wurden. Oder die Bedeutung der Eiche, deren Blätterrauschen das Kommen von Zeus ankündigte.
Woher beziehst du dein Wissen um und über Bäume?
Ich werde ganz hellhörig, wenn ich Sammlungen und Bücher lese und auf Botanik stoße, hier finde ich unglaubliche Sachen oder auch Traumwörter für mich (lacht).
Woher nimmst du deine schriftstellerischen Ideen? Und ab welchem Zeitpunkt werden diese verschriftlicht?
Die Verschriftlichung erfolgt nach eigenen Gesetzen: Der Text läuft oder bricht. Es bleibt ein Zusammenspiel von Collage und Montage, ein Aufeinanderprallen durch die Sprache und ein Umwandeln von Sprache, wie man es bei Friederike Mayröcker lernen kann. Ein Beispiel sei genannt: Mayröckers Buch „Heiligenanstalt", mit Musiker-Biografien, lässt Beethovens Heiligenstadt (Anm.: wo er zahlreiche Sommer verbrachte und in einer tiefen Krise sein "Heiligenstädter Testament" verfasste) anklingen. Ein anderes Beispiel ist „als der Bauknecht erstmals ins Haus kam", das Ungewisse bleibt gleichzeitig vielschichtig.
Wie beschreibst du deinen Zugang zu Themen, wie deinen Schaffensprozess?
Ich nenne es Repetitionsmechanismus, Wahrnehmungstore werden durch Wiederholungen geöffnet und künstliche Erzählzusammenhänge werden gebrochen. Ein Beispiel ist die Fotosynthese, die chemisch wie physikalisch erklärt werden kann. Es handelt sich um Einzelwörter, die erklärt, gleichzeitig nicht erklärt werden, innersprachliche Redensweisen, in denen Personen keine Rolle spielen. Da fällt mir noch ein Beispiel ein: Die Rolle des Wacholders im Märchen war eine magische, einerseits konnten Knochen, die unterm Wacholder vergraben wurden, unter bestimmten Umständen wiederbelebt werden. Andererseits und gleichzeitig kommt aus dem Schamanismus der Gedanke, dass alle Knochen und Organe lernen.
Und wann entscheidest du, ob es ein Buch, ein Theaterstück oder ein Film wird?
Es kommt ganz auf die Konzeption an. Manches erfordert eine kurze Erzählstruktur. Vieles ist metaphorisch, vieles assoziativ: „Eisen und Salz" ist Eisenerz und Salzburg, Eisenerz ist der Brotlaib der Steiermark, bestehend aus Krümeln, die zu Häusern werden. Ich nehme dann Redewendungen wörtlich und arbeite mich weiter. Ein Beispiel ist die Jägersprache, die sehr metaphorisch ist, allein für das Murmeltier gibt es Bezeichnungen, die wörtlich ganz andere Tiere sind: Das weibliche Murmeltier wird als „Katze", das männliche als „Bär" und Jungtiere werden als „Affen" bezeichnet.
Gibt es eine Ausdrucksform, die du bevorzugst, die dir lieber ist?
Er führt eines ins andere, die Welt ist voller Zeichen. Nehmen wir eine Litanei. Da kommen Heilige vor, wie in der Allerheiligenlitanei Kosmas und Damian, die im alten Griechenland Ärzte waren, die kein Geld für ihre Heilungen verlangten, gleichzeitig den christlichen Glauben verbreiteten und daher verfolgt wurden. Sie haben lateinische Bezeichnungen in der Botanik aufgeschlüsselt.
Wann arbeitest du?
Ich notiere täglich, vier Stunden Zeitpolster dafür muss sein. Auf der Alm arbeite ich auch viel mit Holz und werde auch zum Holzbildhauer - das sind für mich Erfahrungen durchs Tun.
Wie ist das Verhältnis zwischen Lesen und Schreiben?
Die Verteilung von Recherche und Bildung zu Literatur ist sieben zu drei.
In Rezensionen und Beschreibungen deiner Werke sind Eigenschaftswörter wie spielerisch, humorvoll, mitunter bizarr und grotesk zu finden. Steckt eine Absicht dahinter?
Es ist keine Absicht, es ergibt sich aus der Sache, wo Wortwitz und Wortspiel in sich drinnen sind: Das Erhellende aneinander klafft.
Du bist auch seit 30 Jahren als Senner im Sommer auf der steirischen Seite des Dachsteins zu finden. Wenn du dich zurückerinnerst, was war der Anlass, damals im Sommer auf die Alm zu gehen?
Ich hatte schon als Kind die Vorstellung, oben auf der Alm zu leben. Das lag auch an den Sagen, die sich in den Höhen abspielten. Durch den bildenden Künstler Gunther Naynar bin ich auf die Alm gekommen, weil er wollte Landart-Geschichten hinterm Grimming erzählen, und ich war ihn besuchen. Die bezaubernde Landschaft, ein Gupf-Berg, grün und schön.
Du hast am Mozarteum Orgel studiert - spielst du noch?
Im Moment nicht, denn es ist eine Frage des Übens. Ich habe immer wieder gespielt, so- lange, bis es wieder zu viel wurde.
Hast du mit dem Preisgeld des Literaturpreises etwas Besonderes vor?
Ich habe mir einen leichteren Laptop bestellt - das ist eine Erleichterung der Arbeit.
Biografie
Geboren 1943 in Salzburg. Bodo Hell studierte am Salzburger Mozarteum Orgel, an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien Film und Fernsehen sowie an der Universität Wien Philosophie, Germanistik und Geschichte. Seit den 1970er-Jahren widmet sich Bodo Hell einer der Faktizität verpflichteten intertextuell-experimentellen Prosa, der visuellen Poesie und der Schrift im öffentlichen Raum. Zudem realisierte er Theater-, Radio- und Filmprojekte. Seine Textmontagen verbinden dialektische Sprachelemente mit wissenschaftlicher Sprache und schöpfen neuartige poetische Wort-, Schrift- und Zeichengefüge. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit ist Bodo Hell auch der Almwirtschaft verpflichtet; im Sommer lebt er als Senner auf der Grafenbergalm im steirischen Dachsteingebirge, wo er Rinder, Ziegen und Pferde betreut. Am 9. August 2024 wurde er das letzte Mal von Wanderern gesehen. Am 11. August 2024 wurde er als vermisst gemeldet.
Beitrag aus der Begleitpublikation zu den
Kunst- und Kulturpreisen 2024 des Landes Steiermark
Stand: Oktober 2024